Gabriel oder das Versprechen
nur
in deren ignorantem, hochmütigen Verhalten den männlicher
Teilnehmern gegenüber? Meinst du das wirklich?«
»Ja, Phillip, so in etwa scheint er
zu ticken.« Fassbinder hörte sich in aller Ruhe den Dialog zwischen
seinen beiden Mitarbeitern an. Schon oft war ein solcher
Gedankenaustausch, auch wenn er gelegentlich in die Irre führte,
der Weg zur Lösung eines Falles. »Das heißt dann aber auch«, setzte
Phillip erneut an, »wenn man die krankhaften Vorstellungen
weiterspinnt, dass Gabriel sich seine Opfer gerade deshalb aus den
Teilnehmerinnen an den Speed-Date-Partys aussucht, weil ihm solche
Orte - wie soll ich sagen - so eine Art Sündenpfuhl zu sein
scheinen.«
»Ja, Phillip, aber nur das Weib
steht für die Sünde. Das Weib ist die Verführende, die das Zepter
schwingt. Sie lässt - wenn man es volkstümlich ausdrücken will -
die Männer nach ihrer Pfeife tanzen. Sie knechtet die Männer, indem
sie - wie einst im alten Rom die Cäsaren - den Daumen nach oben
oder nach unten bewegt. Leben oder Tod.
Wenn dem Mann die Gunst des erhobenen Daumens - im übertragenen
Sinne das ›Ja‹ - gewährt wird, dann darf er weiter hoffen. Ein
›Nein‹ heißt Ende aller Hoffnung. Die Gunst wird keinem oder nur
einem Einzigen geschenkt. Alle anderen werden ausgeschlossen. Sie
zeigt sich hartherzig, unnachgiebig, unerbittlich … Aus der Sicht
Gabriels ist das die Sünde, die das Weib auf sich lädt. Und diese
Sünde zu sühnen, sieht er sich als Racheengel
auserwählt.«
»Vieles, von dem, was du da
andeutest, deckt sich auch mit den schillernden Facetten dieses
Erzengels Gabriel, wie er in der jüdischen, der islamischen und
letztlich eben auch christlichen Literatur dargestellt wird«,
stimmte Phillip ihr zu.
»Aber die Ursachen für diese Morde«,
ließ sich jetzt Fassbinder vernehmen, »müssen doch auf irgendwelche
tiefgreifenden Ereignisse in seiner Vergangenheit zurückzuführen
sein.«
»Ja, das vermute ich. Nach allem,
was ich über derartige Konstellationen bisher in Lehrbüchern
gelesen habe, bleibt mir nur der Schluss, dass Gabriel ein
traumatisches Erlebnis in seiner Kindheit oder seiner Jugend gehabt
hat. Wahrscheinlich hat er eine Frau mit abgöttischer Hingabe
geliebt. Und diese Frau muss für ihn unerreichbar gewesen sein, ihn
tödlich gekränkt oder ihn abgewiesen haben. Dies würde auch
erklären, weshalb Gabriel seine Opfer einerseits geradezu
hinrichtet, andererseits ihnen aber mit großer Zuneigung begegnet.
Das zeigt sich durch das immer gleichbleibende Blumenarrangement,
das er ihnen in die gefalteten Hände
steckt.«
Wieder einmal waren Sveas Kollegen
von ihren aufschlussreichen Ausführungen, die sie ruhig und
sachlich vorgetragen hatte, beeindruckt. Man merkte es an den
Reaktionen. Vergessen war die Anagramm-Theorie, die ihnen allen ja
auch imponiert hatte, wenngleich sie in die Sackgasse
führte.
»Klingt plausibel«, meinte Marc.
»Gibt es noch mehr Teilnehmerinnen, die sich - wie soll ich es
nennen - die sich so bedeckt gehalten haben?«
»Ja, zwei fallen noch in dieses
Raster. Zwei Frauen, die jeweils nur einmal ›Ja‹ angekreuzt haben«,
antwortete Svea. »Und wenn ihr meine Ausführungen nicht für abwegig
haltet, müssen diese beiden Frauen besonders geschützt
werden.«
Es meldeten sich noch einige
Kollegen zu Wort. Die allgemeine Meinung war einhellig: Sie teilten
Sveas Theorie. Fassbinder erläuterte noch die Besonderheit, dass
der 32. Geburtstag von Sandra Niemetz auf den potenziellen nächsten
Tattag, den 6. Juni, falle. Abschließend wurden die weiteren für
den Dienstag vorgesehenen Schritte erörtert und die Aufgaben
verteilt. Gegen halb sechs beendete er die Sitzung.
48
Emilienstraße 31, Samstag, 30. Mai,
22.50 Uhr
Sandra ahnte nichts davon, wie sehr
sie in den Fokus polizeilicher Präventivmaßnahmen geraten war. Sie
genoss das Heute. Die Sorgen, die die Mordkommission sich
augenblicklich - ihre Person betreffend - hinsichtlich des
kommenden Wochenendes machte, kannte sie nicht. Der Film von Kay
Pollak hatte beide tief beeindruckt und versetzte sie zunächst in
eine nachdenkliche Stimmung. Sie mussten den Film erst einmal
sacken lassen. So war die kurze Fahrt zu Sandras Wohnung vom
Schweigen bestimmt.
Ihre Stimmung wandelte sich, als sie
bei romantischer Radiomusik im Wohnzimmer aneinander gekuschelt
saßen, ein Glas Rotwein tranken und sich ›wie im Himmel‹ fühlten.
Sie ließen den Film Revue passieren und freuten sich, dem
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