Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gabriel

Gabriel

Titel: Gabriel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Killough-Walden
Vom Netzwerk:
vom Meer heran. Zufrieden nickte sie. Sehr gut, weiter so. Jetzt malte sie sich Wolken aus. Die sollten sich über dem Schimmer bilden, der immer heller glühte, während sie so dahinrannte.
    Auf ihren Befehl ballten sich die Wolken zusammen und verdunkelten den Himmel, schwer von Wasser.
    Bald näherte sie sich dem rötlichen Licht, hörte Männer schreien, und ein anschwellendes Dröhnen begann die Stimmen zu übertönen. Was das war, wusste Juliette: das Feuer. Die Luft wurde immer wärmer und erschwerte ihr das Atmen. Wäre es Tag gewesen, hätten Ascheschleier, von den Flammen emporgeschleudert, das Himmelsblau verdüstert.
    Auf dem nächsten Hügel blieb sie stehen und betrachtete das Inferno. Das Feuer lärmte ohrenbetäubend, knackte und knisterte, wütete und zischte in der Nacht. Um das brennende Gebäude rannten mehrere Dutzend Leute herum. Die Gesichter konnte sie nicht ausmachen; sie sah nur dunkle Gestalten. Zwei hielten einen Schlauch fest, andere schwangen Schaufeln. In der Ferne heulten Sirenen.
    Juliette schaute zur Straße auf der anderen Seite des Kinderheims und betete um die Ankunft eines Feuerwehrwagens. Da spürte sie etwas Feuchtes auf ihrer Wange und blickte nach oben. Noch ein Regentropfen fiel herab, in eines ihrer Augen. Entschlossen verdrängte sie Erleichterung und Dankbarkeit, senkte die Lider und konzentrierte sich mit aller Kraft. Ja, öffnet eure Schleusen, ihr Wolken! Lasst es in Strömen regnen! Und die Wolken gehorchten.
    Als Juliette die bereits vertraute Schwäche in ihrem Körper fühlte, neigte sie den Kopf. Würde sie noch jemanden heilen können, nachdem sie nun den Regen heraufbeschworen hatte? Energisch verbannte sie diese Angst aus ihrem Gehirn. Ja, sie würde alle Wunden heilen, niemals versagen, eher sterben.
    Inzwischen war sie klatschnass. Eine Hand über den Augen, spähte sie hinunter, auf der Suche nach Verletzten. Etwa dreißig Meter zur Linken des Gebäudes drängten sich stehende und kniende Leute, die Umrisse der Gestalten waren aus der Ferne kaum erkennbar. Juliette ließ den Arm sinken und lief auf sie zu. Einmal rutschte sie auf dem glitschigen, regennassen Boden aus. Doch sie fand ihr Gleichgewicht sofort wieder, eilte weiter und erreichte die Gruppe rasch.
    Bedrückt musterte sie die traurigen Gesichter und hörte ein Schluchzen. Während sie sich einen Weg zwischen den Leuten bahnte, hielt sie vergeblich nach Gabriel Ausschau. Im Zentrum der Versammlung angelangt, sah sie einen alten Mann, der sich über einen kleinen Jungen beugte, der am Boden lag. Die Lider des Kindes waren geschlossen, die Haare großteils verbrannt, die Kleider verkohlt, die nackten Arme und das Gesichtchen voll schlimmer Brandwunden.
    Aus einem ersten Impuls heraus wollte Juliette schreien und sich übergeben, doch sie nahm sich zusammen und kniete neben dem Mann nieder. Er trug die schwarze Kleidung und den weißen Kragen eines Vikars, und sie sah Tränen in seinen blauen Augen, helle Rinnsale auf seinen rußgeschwärzten Wangen.
    Sie verschwendete keine Kräfte auf Erklärungen. Was sie sagen konnte, würde ohnehin nicht glaubhaft klingen. Stattdessen legte sie eine Hand auf die Brust des Jungen und spürte, wie die Leute ringsum erstarrten, von unterschiedlichen Reaktionen auf die Einmischung erfüllt. Gewiss, das Kind gehörte zu ihnen. Sie war eine Fremde. Was zum Teufel machte sie hier?
    Doch sie ignorierte ihre Umgebung, schloss die Augen und konzentrierte sich. Unter ihren Fingern spürte sie die Lebenskraft des Jungen. So schwach wie eine Rauchfahne wehte sie aus seinem Körper, wollte sich aus dem zerstörten Inneren befreien, das sie bisher festgehalten hatte. Aber sein Herz schlug immer noch, der Puls kaum.
    Mit ihrer ganzen Macht drängte Juliette die Lebenskraft in die schmale Brust zurück und stellte sich vor, wie der Junge früher ausgesehen haben musste. Unbeschadet. Gesund. Glücklich. Kein Kind durfte jemals sterben, wenn sie es verhindern konnte. Hier würde es keine kleinen Särge geben.
    Ringsum hörte sie die Leute nach Luft schnappen, Stimmen voller Staunen, die sich unter den Lärm des unkontrollierbaren, wütenden Feuers mischten. An Juliettes Seite begann der Vikar laut zu beten. Das alles beachtete sie nicht. In ihrem eigenen Körper breitet sich die Schwäche noch spürbarer aus, aber Juliette gab nicht nach, vereinte ihr Innerstes mit der Seele des Kindes.
    Unter ihrer Hand fühlte sie eine Regung und schlug die Augen auf. Tristan war geheilt, keine

Weitere Kostenlose Bücher