Gabriel
Gesprächsthema, das sie von ihrem derzeitigen Problem ablenken würde.
»Die unternimmt eine Fahrradtour. Vor sechs Tagen ist sie aufgebrochen, also wird sie sicher zurück sein, bevor du Europa wieder verlässt. Wenn sie morgen irgendwo übernachtet, rufe ich sie an und sage ihr, dass es dir gut geht. Jetzt sind wir ja nicht weit von dir entfernt. Vielleicht kommst du mal zu uns?« Juliettes Eltern dozierten gerade an der Universität von Gmunden, in Österreich.
»Sehr gern, Dad.« Das würde ihr wirklich gefallen. Ihren Eltern konnte sie von ihren neuen Talenten erzählen. Sie würden ihr glauben. Oder? Schaudernd schloss sie die Augen. »Wenn ich hier alles geklärt habe, gebe ich euch Bescheid.«
»Klingt großartig. Ich hab dich lieb, meine Süße. Und nun muss ich schlafen. Bye-bye.«
»Gute Nacht, ich hab dich auch lieb.« Juliette drückte die Auflegetaste und fühlte sich seltsam verlassen. Als würde die Angst, die sie seit dem verhängnisvollen Blitz quälte, noch nicht genügen! Im Hotelzimmer herrschte eine Grabesstille, und sie fröstelte. Wahrscheinlich war sie einfach nur müde. All die Reisen zerrten an ihren Nerven, und die Aussicht auf die künftigen half ihr nicht.
Ihr Geheimnis hing über ihr wie Puuhs kleine schwarze Wolke und würde nicht verschwinden. Das wusste sie. Wobei die Fähigkeiten als solche sie nicht so sehr beunruhigten wie die Tatsache, dass sie selbige überhaupt besaß.
Warum ausgerechnet sie? Warum machten sie sich gerade jetzt bemerkbar, und was würde noch auf sie zukommen? Litt sie an einem Gehirntumor? So ähnlich wie dieser Typ in dem Science-Fiction-Roman, der seine übernatürlichen Fähigkeiten entdeckte, kurz bevor bei ihm ein Aneurysma diagnostiziert wurde und er plötzlich quakte?
Das alles wollte sie ihrem Dad anvertrauen. Wirklich. Aber leider war das unmöglich. Das Gespräch konnte sie sich unschwer vorstellen: ›Toll, dass du eine feste Anstellung kriegst, Dad. Aber weißt du, was noch viel fabelhafter ist? Ich kann Leute gesund machen. Wie Jesus!‹
Nein, nein. Nur mit Sophie würde sie darüber reden.
Nicht telefonisch. Damit musste sie bis zu ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten warten.
Seufzend sank sie auf den harten Schreibüschstuhl in ihrem Hotelzimmer und hoffte, bis dahin würde sie auch ohne jemanden, dem sie alles erzählen konnte, überleben.
Gabriel hämmerte den letzten Nagel in das Brett und trat zurück, um sein Werk zu begutachten. Dabei prallte er gegen eine kleine, aber entschlossene Gestalt, die mit den Armen sein Knie umschlang und sich auf seinen Stiefel kauerte.
»Los, sofort!«, tönte ein Schrei von unten herauf. Lächelnd sah er in das strahlende Gesicht eines der Kinder, die in dem Heim wohnen sollten, sobald er es zusammen mit den anderen Männern fertiggestellt hatte. »Komm, das hast du mir versprochen!«, beharrte der Fünfjährige. Ein breites Grinsen entblößte zwei Zahnlücken. Tristan war ein kräftig gebauter flachsblonder Junge mit hellblauen Augen und sommersprossiger Nase. Ständig wuchs er aus den Kleidern heraus, die er von der Dorfgemeinde bekam – nicht, weil er zu spät damit versorgt wurde, sondern weil er so schnell in die Höhe schoss. Seine Zwillingsschwester Beth war eine Handbreit kleiner, mit dunklerem Haar und helleren Augen. In ihrem blassen Gesicht wirkten sie wie Eis, kalt und klar und älter als sie war.
Gabriel legte den Hammer auf einen Steinhaufen und stemmte seine Hände in die Hüften. »In Ordnung, Tristan«, gab er zu, »ich habe dir eine Runde versprochen, nicht wahr?«
Eifrig nickte der Junge.
»Und wo ist deine hübsche Schwester?«
»Hier!«, erklang ein Jubelschrei. Eine Sekunde später warf sich noch eine kleine Gestalt auf Gabriel, der in lautes Gelächter ausbrach. Beth setzte sich auf seinen zweiten Stiefel und umklammerte sein Bein.
»Los, sofort!«, kreischten beide Kinder.
Gabe schüttelte den Kopf und zog eine große Schau ab, während er Tristan und Beth humpelnd über den Friedhof schleppte, der an die Baustelle grenzte. Kichernd und quietschend hielten sich die Zwillinge an ihm fest. In immer schnellerem Tempo trug er sie an den Gräbern der Männer und Frauen vorbei, die er zu ihren Lebzeiten gekannt hatte, vor all den Jahren.
Natürlich wusste er, dass die anderen Männer ihn kritisch beobachteten. Für sie war er ein Neuankömmling, der Sohn Duncan Blacks, eines vertrauenswürdigen Freundes vieler älterer Bewohner der Äußeren Hebriden. Würde
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