Gabriel
Vampir! Das war eine idiotische Schlussfolgerung, aber eine verständliche spontane Vermutung, von kalter Furcht hervorgerufen.
Als der Vampir nun auf sie zukam, wusste Juliette nicht, was sie tun sollte. Aber ihrem Körper fiel etwas ein. Sie spürte, wie er nach ihren Kräften suchte, dann ein Gezerre in ihrem Innern, einen Ruck nach außen, und schon drehte sie sich um und umklammerte das Messinggeländer erneut.
Nur eine Sekunde lang konzentrierte sie sich, ehe ihre telekinetischen Kräfte das Geländer aus der Wand rissen, und sie vergeudete keine Zeit, sondern fuhr auf dem Absatz herum, um Azrael das glänzende Metall gegen den schönen Schädel zu schmettern.
Doch der Vampir duckte sich nicht einmal. Stattdessen hob er seine rechte Hand und stoppte die rasante Bewegung der Waffe. Verstört starrte Juliette in seine Augen. In ihrer Hand erkaltete das Metall. Sie schaute hinab und beobachtete, wie sich Eiskristalle auf dem Messing bildeten.
Dann stieg Dampf empor, ihre Finger drohten zu verbrennen, und sie musste die Stange loslassen. Zitternd trat sie zurück und presste sich an die Kabinenwand.
»Tut mir leid, Juliette«, sagte der Vampir gleichmütig. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber ich habe erklärt, ich würde Sie nicht zweimal auffordern, mich zu begleiten.«
Nun ließ er die Stange fallen. Ehe Juliette Luft holen und schreien konnte, wurde sie von starken Armen umschlungen, an eine harte Brust gedrückt und augenblicklich von einer tiefen, völlig fremdartigen inneren Ruhe erfüllt, die alle Spannungen in ihrem Körper lockerte und ihr Gehirn benebelte.
Ihr Kampfgeist erstarb. Wie aus weiter Ferne hörte sie Männer schreien, und der Vampir sprang mit ihr empor. Der Flug dauerte nicht lange. Fest und sicher hielt Azrael sie in seinem Arm, während sie durch den Aufzugschacht nach oben sausten, zu einer schimmernden Tür.
Juliette war zu erschöpft, um sich darüber zu wundern. Es war einfach nur eine weitere überirdische Neuheit in einer Welt, die nicht mehr den Gesetzen der Logik gehorchte.
Juliette entspannte sich, denn sie hatte ohnehin keine Wahl. Sie fühlte sich friedlich und ruhig, wie unter Drogen, und unfähig, Zorn aufzubieten oder eine Flucht zu erwägen.
Vor der Tür hielt der Vampir schwebend inne und hob seine freie Hand. Da veränderte sich die Tür, löste sich auf, und in der verschwommenen Metallmasse öffnete sich ein Portal.
Jenseits dieses Portals sah Juliette ein Wohnzimmer mit Ledersofas und -sesseln und einem knisternden Kaminfeuer. Einige Männer erwarteten sie dort. Zwei von ihnen kannte sie. Einer war der berühmte Filmstar Christopher Daniels. Der andere Gabriel Black.
Ehe sie zu überlegen vermochte, was mit ihr geschah, trug der Vampir sie über die Schwelle. Raum und Zeit veränderten sich um sie herum, und es war ein merkwürdiges Gefühl, das Juliette nicht hätte beschreiben können, wäre sie danach gefragt worden. Aber ihr entspannter Zustand ermöglichte es ihr, einfach alles zu akzeptieren, bis sie die andere Seite erreichten. Laudos schloss sich das Portal hinter ihnen.
Azrael stellte sie behutsam auf schwankende Füße. Sofort kam Gabriel zu ihr und umfasste ganz sanft ihre Oberarme. Mit seiner Hilfe fand sie ihr Gleichgewicht. »Juliette, schau mich an, Liebes«, bat er leise.
Unsicher starrte sie den Boden an, als wollte sie sich seiner Stabilität vergewissern. Sie fühlte sich der Realität entrissen, ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Aber sie zwang sich, Gabriels Blick zu erwidern.
»Was hast du nur mit ihr gemacht?«, fragte er, an Azrael gewandt. Die Augen des Vampirs glühten nicht mehr. Jetzt strahlten sie faszinierend bernsteinfarben mit goldenen Punkten.
»Sie steht immer noch unter seinem Bann«, erklang eine weibliche Stimme.
Blinzelnd sah Juliette sich um. Da entdeckte sie eine Frau, die hinter Christopher Daniels hervortrat und ihr ein warmherziges Lächeln schenkte. Sie hatte langes blauschwarzes Haar und indigoblaue Augen und war von außergewöhnlicher Schönheit.
Gabriel musterte den Vampir vorwurfsvoll, was Azrael offensichtlich nicht störte.
»Leider war das nötig. Sie hat mir gegenüber ihr geradezu feuriges Temperament bewiesen, obwohl Samael sein Bestes getan hatte, um sie betrunken zu machen.« Ein leichtes Lächeln entblößte die Spitzen seiner Reißzähne. »Plötzlich hat sie das Geländer aus der Wand der Liftkabine gerissen und versucht mich niederzuschlagen. Mir fehlte die Zeit, um vernünftig mit ihr zu
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