Gabriel
Juliette mit seinen fragwürdigen Methoden schaden können.«
»Aber das ist nicht geschehen«, erwiderte Lilith. »Er wusste, was er tat.«
Samael wandte sich vom Fenster ab und musterte sie mit seinen Gewitteraugen. In den grauen Tiefen sah sie Blitze zucken. »Sicher«, sagte er schlicht. »Das wissen sie alle.«
Langsam ging er zu seinem Schreibtisch, den Blick nach innen gerichtet. Die ruhige, aber spannungsgeladene Aura, die er verströmte, wirkte bedrohlich. Fast wäre Lilith glücklicher gewesen, wenn er seinen Emotionen freien Lauf gelassen hätte. Dann hätte sie wenigstens gewusst, was ihr blühte.
Auf dem Schreibtisch lag zwischen mehreren Dokumenten ein Aktenordner. Samael griff danach und öffnete ihn.
Unfähig, die Anspannung noch länger zu ertragen, räusperte sich Jason. »Sollen wir ihr folgen, Herr?«
Eine Zeit lang ließ Samael die Frage unbeantwortet. Lilith hörte Jason schlucken. Dann warf Samael den Ordner geöffnet auf den Schreibtisch zurück. »Nein, nicht nötig«, entgegnete er kurz angebunden.
Teils erleichtert, teils besorgt überlegte Lilith, was der Aktenordner enthalten mochte. Sie sah nur einen getippten Text und Unterschriften auf der ersten Seite, darunter eine, die sie wiedererkannte. »Oh.« Ihre Augen weiteten sich. »Das ist Juliettes Vertrag.«
Sam schenkte ihr ein kühles, arrogantes Lächeln.
Schweren Herzens erriet sie, was er getan hatte. Die Geschichte wiederholte sich manchmal. Und Verträge waren Samaels Spezialität. Zur Bestätigung ihrer Vermutung schaute sie McNabb an. Sein wissender Blick genügte ihr.
Zweifellos hatte die eifrige junge Juliette Anderson den Vertrag ohne zu zögern unterzeichnet. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte. Niemand außer Sam konnte seine Verträge entschlüsseln. Nun ja, niemand außer Samael und möglicherweise Max. Doch es würde dem Hüter nicht leichtfallen.
Vor vier Monaten hatte er einen solchen Vertrag gezwungenermaßen entschlüsselt. Uriel hatte eine Vereinbarung mit Sam unterschrieben, bei der es um seinen Sternenengel Eleanore Granger ging. Und das war dem Erzengel schlecht bekommen.
»Ein nichtssagendes Dokument, Lily.« Nur Sam pflegte sie mit diesem Kosenamen anzureden. »Mehr oder weniger.« Er lächelte süffisant.
So muss man sich vor einer Herzoperation fühlen, dachte Gabriel. Oder vor einer Entbindung. Oder vor einer Verhandlung mit einem Geiselnehmer, der einen Schulbus voller kleiner Kinder in seine Gewalt gebracht hat.
Nachdem Juliette die Wahrheit akzeptiert hatte, beobachtete er angstvoll ihr wechselhaftes Mienenspiel. Da stimmte irgendetwas nicht.
Von Max, Uriel und Eleanore unterstützt, hatte er ihr die Situation in allen Einzelheiten erklärt. Dabei hatten sie sich bemüht, den Schock zu mildern, den ihr der Ursprung ihrer Talente und das Erdendasein der Erzengel versetzte. Mitfühlend hatten sie ihr versichert, sie sei nicht allein.
Im Lauf der Unterhaltung war Ellie in jedem Sinn des Wortes ein Engel gewesen. Geduldig und freundlich hatte sie Juliettes Vertrauen gewonnen. Dafür hätte Gabe sie am liebsten geküsst. Wenn Uriel ihn danach nicht ermordet hätte.
Aber trotz aller Mühe bekundeten Juliettes Augen, die seltsam grünbraun leuchteten, immer noch einen gewissen Argwohn.
Sie wollte fliehen. Das sah er ihr an. Diesen brennenden Wunsch, möglichst schnell wegzulaufen, spürte er sogar. Wie ein Wolf, der ein Rehkitz anstarrte, kam er sich vor. Sie bestand nur aus Vorsicht und Furcht, wie gelähmt in einem kosmischen Schweinwerferstrahl. Natürlich konnte er sie nicht gehen lassen. Da draußen lauerten Sam und, schlimmer noch, all die Adarianer. Juliette wäre eine allzu leichte Beute. Deshalb würde er sie nicht aus den Augen lassen.
Andererseits wusste er, welch schweren Fehler er im Zug mit der Drohung begangen hatte, er würde sie überall finden. Das musste er wiedergutmachen. Er wollte sie von ihrer Angst befreien und beteuern, alles sei in bester Ordnung. Für ihn war es am wichtigsten, dass sie ihn nicht mehr fürchtete und ihm traute. Dies war kein One-Night-Stand, kein kurzes Abenteuer in einer dunklen Gasse hinter einer Bar. Nein, Juliette war sein Sternenengel, und so schwer es ihm auch fiel, in ihrer Nähe sein Verlangen zu zügeln – er musste langsam vorgehen.
Zusammengesunken saß sie auf dem Ledersofa, eine Chenilledecke über den Beinen. Gabriel lehnte an der Wand neben dem Kamin. Die muskulösen Arme vor der breiten Brust verschränkt, konnte er seinen
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