Gabriel
Korridore, Gobelins schmückten die Wände. In der Luft lagen die Düfte eines erlesenen Festmahls, ringsum erklangen die Geräusche eines geschäftigen Haushalts. Höflich verbeugten sich die Dienstboten, die an Juliette vorbeieilten. Sie nickte ihnen zu und folgte dem langen Flur zur Küche. Hinter einem hohen Türbogen roch es stärker nach Essen. Weiße Federn lagen auf dem Steinboden. Jemand holte einen Brotlaib aus einem Backofen. An einem unverglasten Fenster schälte eine alte Frau Kartoffeln.
Juliette verließ das Schloss durch den Hinterausgang. Draußen war es schon fast dunkel. Zur Linken, nahe den gefährlichen Klippen, die den östlichen Teil des Schlosses schützten, sah sie ein schwankendes Licht. Sie blieb stehen und spähte in den Nebel, der sich allmählich verdichtete. Dann verschwand das Laternenlicht unterhalb der Klippen, die hundert Fuß tief zum Meer hin abfielen.
Erschrocken raffte sie ihre Röcke und begann zu laufen. Sie stolperte über Disteln, wahrte mühsam ihr Gleichgewicht und eilte weiter. Jetzt hob sie ihre Füße etwas höher. Da das letzte Tageslicht bereits beinahe verblasst war, konnte sie die Grenze zwischen den Klippen und dem Himmel nicht ausmachen.
Sie verlangsamte ihre Schritte. Beinahe wäre sie auf ein paar losen Steinen ausgerutscht, die über die Felskante polterten und verschwanden. Juliette rang nach Luft, ihr Herz pochte schneller. Da stimmte irgendetwas nicht. Dieses Gefühl hielt sich beharrlich im Hintergrund ihres Bewussteins, ließ ihre Finger prickeln und schwächte ihre Beine.
Nachdem sich ihre Atemzüge beruhigt hatten, lauschte sie angespannt. Die Ebbe saugte die rauschenden Wellen zurück, und Juliette hörte Männerstimmen, die von der Küste heraufdrangen. Vorsichtig kniete sie nieder, dann legte sie sich auf den Bauch und schaute über den Klippenrand hinab.
Ja, eben hatte sie tatsächlich eine Laterne gesehen. In der kleinen Bucht lag ein Ruderboot, ein halbes Dutzend Männer eilte auf den nassen Felsen umher. Schmuggler, dachte sie.
Die Männer hoben offene Holzkisten aus dem Boot. Obwohl Fischernetze und Decken auf ihnen lagen, erkannte Juliette die Umrisse von Flaschen. Die Männer trugen die Ware in kleine, im Lauf der Jahrhunderte von den Gezeiten geformte Höhlen. Bald würde die Flut einsetzen. Das schienen die Schmuggler zu fürchten, denn sie arbeiteten in fliegender Eile. Was mochten die Flaschen enthalten?
Urplötzlich blickte ein Mann nach oben. Angstvoll wich Juliette zurück. Der Atem stockte ihr in der Kehle. Als ein Schrei erklang, wusste sie, dass sie entdeckt worden war. Blitzschnell sprang sie auf. Dabei verfingen sich ihre Röcke unter einem ihrer Schuhe. Wieder rieselten Steine in die Tiefe. Im nächsten Moment stürzte sie, spürte ringsum nichts als Luft, und ihr Körper überschlug sich, als zerrten Wind und Schwerkraft an ihr.
»Juliette!«
Das Gezerre dauerte an, war aber mittlerweile etwas sanfter. Farbflecken und Finsternis tanzten vor Juliettes Augen. Sie versuchte das Chaos wegzublinzeln. Doch es ließ sich nicht verscheuchen. Verzweifelt suchte sie Halt, und ihre Finger klammerten sich an etwas Warmes, Festes.
Ich falle!
»Pst, Süße, ich bin ja hier«, ertönte eine tiefe, vertraute Stimme. Juliette schloss die Augen und ließ sich von ihr beruhigen. Gabriel. Seine Arme umfingen sie, sicher und fest, sein warmer, starker Körper presste sich an ihren, verjagte die Kälte, verbannte das Grauen des Traums.
Meines Traums, dachte sie. Nein. Meiner Erinnerungen. Meines Todes.
»Was hast du geträumt, Liebes?«, fragte Gabriel besorgt. Seine Flüsterstimme strich über ihren Scheitel. Zärtlich schob er ihr das lange Haar aus dem Gesicht. Sie schloss die Augen und wünschte, die restliche Welt würde verschwinden.
Weil ihr Herz immer noch heftig pochte und ihr leicht übel war, konnte sie nicht antworten.
»Schon gut, meine Kleine.« Behutsam wiegte er sie hin und her. »Alles ist in Ordnung.«
Erst nach minutenlangem tröstlichem Schweigen fand sie die Kraft, ihre Lider erneut zu öffnen. Sie sah das Bett, dann die Mauern der Ruine mit ihren Wandbehängen, die weißen, von der Brise geblähten Gardinen an den offenen Fenstern. Schließlich schaute sie Gabriel an. Über seiner breiten Schulter schwebte unheimlich der Mond und spiegelte sich in seinen silbernen Augen. Noch immer musterte er sie voller Sorge.
»Du zitterst ja«, murmelte er und hob ihr Kinn, um sie genauer zu betrachten.
O Gott, ich erinnere
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