Gabriel
Haar ihres Erzengels.
»Gabriel!« Über dem Echo des gewaltigen Krachs konnte sie ihre eigene Stimme kaum hören. »Gabriel!«, rief sie noch einmal. Etwas anderes wusste sie nicht zu sagen. Aber er atmete. Sie sah, wie sich sein breiter Rücken hob und senkte. Langsam, auf einen Arm gestützt, drehte er sich um und rang nach Luft.
Mit der freien Hand strich sie Gabriel das Haar aus dem Gesicht. Sie wollte ihn fragen, ob es ihm gut ging. Doch das Erdreich ächzte wieder, und sie schaute zu dem nur wenige Meter entfernt liegenden Menhir hinüber. Jeden Moment würde sich der Adarianer, der darunter lag, erneut befreien. »Wir müssen verschwinden.« So seltsam klang ihre Stimme, hohl und fremd. Und die Schwäche, die sie erfasste, glich einer Droge.
Auf der anderen Seite, bedrohlich nahe, bewegte sich der vom Blitz getroffene blonde Adarianer und jammerte vor Schmerz. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr.
»Lauf zu der Tür!«, wiederholte Gabriel zwischen bebenden, keuchenden Atemzügen und richtete sich auf. »Das hättest du schon längst tun sollen«, schimpfte er.
Juliette ignorierte den Tadel und stand auf. Von Schwäche befallen, verlor sie fast die Besinnung. Vor ihren Augen tanzten funkelnde Punkte. Sie kniff die Lider zusammen, presste sich eine Hand gegen die Stirn.
Inzwischen war Gabriel auf die Beine gekommen. An ihrer Seite spürte sie seine warme, beruhigende Nähe. Er nahm sie auf seine starken Arme und trug sie im Laufschritt zu der Hütte auf dem Gipfel des Hügels.
Was er tun würde, wusste sie. Bei ihrer Ankunft hatte sie nur eine einzige Person in dem Souvenirladen gesehen. Also war der Verkäufer allein. Gabriel musste sich darauf verlassen, dass der Mann die Öffnung des Portals nicht bemerken würde.
Juliette fühlte sich eigenartig. Mit schlaffer Hand legte sie die Splitterwaffe, die sie dem Adarianer gestohlen hatte, auf ihren Bauch, damit sie ihr nicht entglitt. Ihr Kopf sank an Gabriels Schulter. Ringsum drehte sich die Welt.
Noch nie im Leben hatte sie sich so gefühlt, so schwerelos und leer.
Während Gabriel mit ihr durch die wirbelnde interdimensionale Tür eilte, schloss sie die Augen. Finsternis umfing sie wie ein Heer schattenhafter Schemen, das nur darauf gewartet hatte, sie zu belagern. Die Stirn gerunzelt, versuchte sie zu sprechen. Doch sie würgte nur einen winzigen Laut hervor. Dann wurde sie ohnmächtig.
25
Gabriels Herz schmerzte. Auf seinen Armen wog Juliette fast nichts. Wie ein Kind. Was er beobachtet, was sie soeben getan hatte, um sie beide zu retten, konnte er kaum glauben. Welch eine ungeheure Macht sie besaß, hatte er nicht gewusst. Und der Steinkreis – Callanish, dachte er leicht benommen – würde nie mehr derselbe sein. Doch das spielte keine Rolle. Für ihn zählte nur die beängstigende Schwäche seiner Seelengefährtin.
»Michael!«, schrie er, als er durch das Portal stürmte.
Nun brauchte Juliette die Heilkunst des Kriegers, denn er spürte, wie ihre Lebensgeister ermatteten. Zu viel hatte sie sich zugemutet, und jetzt drohte ihr der Tod.
»Michael!«, schrie er noch einmal und unterdrückte ein Schluchzen. Dass es in seiner Kehle aufstieg, konnte er nicht verhindern. Hastig, die Zähne zusammengepresst, schloss er das Portal hinter sich. Im selben Moment rannte sein Bruder, der seine Polizeiuniform trug, zu ihm.
Außer Michael hielt sich nur Max im Wohnzimmer des Herrenhauses auf. Erschrocken erhob sich der Hüter hinter einem kleinen Tisch, auf dem ein Schachbrett und zwei Kaffeetassen standen.
»Gib sie mir!« Der blonde Erzengel nahm Juliettes reglose Gestalt aus Gabriels Armen, der sich mühsam beherrschen musste, um sie ihm nicht sofort wieder zu entreißen und an seine eigene Brust zu drücken.
»Was ist passiert?«, fragte Max.
Gabriel wollte antworten. Aber in seinen Lungen existierte kein Atem. Verzweifelt beobachtete er, wie Michael den bewusstlosen Sternenengel auf die Couch legte, neben ihr niederkniete. Seine Brust verengte sich qualvoll, und so dauerte es eine Weile, bis er hervorstieß: »Die Adarianer!«
Als die Splitterwaffe von Juliettes Bauch rutschte, fing Michael sie auf, warf sie Gabriel zu und konzentrierte sich sofort wieder auf den Sternenengel. Sichtlich besorgt, berührte er ihre Brust. »So sah Ellie auch aus.« Vor einigen Monaten hatte Eleanore mehreren schwer verletzten Leuten kurz hintereinander das Leben gerettet und sich danach in einem ähnlichen Zustand befunden. »Was zum Teufel hat sie gemacht?« Er
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