Gaelen Foley - Knight 02
richtige Jun- genkleidung an – eine winzige Hose, eine kleine Weste, sogar eine kleine gestärkte Krawatte. Süß sah er aus – aber eigent- lich war er noch viel zu klein für derart unbequeme Sachen.
„Ach du liebe Güte! Wer ist denn der vornehme junge Gentleman?“ rief Alice aus. „Das kann doch nicht mein klei- nes Lämmchen sein. Harry, komm und gib mir einen Kuss. Hast du mich denn vergessen? Ich bins doch, deine Tante Ali- ce, und schau, wer noch da ist – deine Kinderfrau Peg.“
Da kam er zu ihnen gerannt. Alice kniete sich rasch hin, breitete die Arme aus und umarmte ihn, einen Kloß in der Kehle. Sanft küsste sie ihn auf die Wange. „Ich habe dich so vermisst“, flüsterte sie.
„Wir waren beide krank“, erklärte er ihr, worauf Alice in- nerlich zusammenzuckte – nun musste sie auch noch Harry
anlügen. Sie hatte keine Ahnung, wie Lucien es ertrug, bis zum Hals in Lügen zu stecken – auch wenn er es für England tat.
Harry gab ihr einen nassen Kuss auf die Wange, zeigte ihr stolz ein paar verkrustete Pusteln und rannte dann zu Peg. „Nana!“
„Guten Tag, Master Harry“, begrüßte Peg ihn gelassen, als wäre alles wieder ganz normal. Alice bewunderte die Selbst- beherrschung der älteren Frau. Als er die Arme ausstreckte und hochgehoben werden wollte, lachte Peg und hievte ihn hoch. Er klammerte sich an ihrem Hals fest, als wollte er nie wieder loslassen. „Na, gefällt es dir in der Stadt?“ fragte sie ihn.
Als Harry anfing, von den herumstreunenden Katzen zu erzählen, die im Garten lebten, warf Peg Alice einen bedeut- samen Blick zu. Alice nickte, bereit zur Schlacht. Sie strich über Harrys feines Haar.
„Ich sage deiner Mama, dass wir da sind.“
Der Knabe schaute sie seltsam an.
„Was ist denn, Lämmchen?“
Er legte den Kopf an Pegs Schulter. „Mama ist ganz schön gemein.“
Alice riss die Augen auf und wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie betrachtete Peg. „Vielleicht solltest du Harry hinauf ins Kinderzimmer bringen.“
Peg nickte. Das Geschrei, das sich sicherlich bald erhob, würde den kleinen Jungen nur aufregen.
„Mrs. Tate, gestatten Sie! Sie können den Knaben doch nicht bis in den zweiten Stock tragen“, protestierte der But- ler.
„Ich bin kräftig wie ein alter Ackergaul, Mr. Hattersley“, wehrte Peg ab.
„Herrje, Sie verrenken sich ja noch den Rücken!“
Nellie folgte ihnen nach oben, um Alices Sachen auszupa- cken.
Alice sah ihnen vom Fuß der Treppe aus liebevoll nach, bis sie verschwunden waren, wappnete sich dann und ging lang- sam den Korridor zum Frühstücksraum hinunter. Sie hielt inne, fachte ihren schwelenden Zorn noch einmal an, um sich Mut zu machen. Innerlich glühte sie, als sie daran dach- te, wie sie Caro in der Grotte erlebt hatte – betrunken, zer-
zaust, sich Lucien schamlos an den Hals werfend. Die Frau war auf sie losgegangen, hatte sie angeschrien und sie dann einfach ihrem Schicksal überlassen.
Es würde ihr schwer fallen, einen kühlen Kopf zu bewah- ren, bei all dem Unrecht, das Caro ihr und ihren Lieben an- getan hatte, aber was auch geschah, ihr Hauptanliegen war, dass Caro Peg wieder einstellte. Das war alles. Nicht nur we- gen Peg, sondern auch um Harrys willen. Ohne anzuklopfen, trat sie in das Frühstückszimmer, um die Überraschung auf ihrer Seite zu haben.
„Guten Tag, meine Liebe.“
Lady Glenwood ruhte auf einem verschnörkelten Diwan und blickte von ihrer Zeitung auf. Rasch verbarg sie ihren Schock hinter einem katzenhaften Lächeln. „Schau an, pünktlich wie die Maurer! Genau eine Woche – wie es mit unserem gemeinsamen Freund vereinbart war.“ Sie warf die Zeitung beiseite.
Beherrscht schloss Alice die Tür.
Caro hatte sich äußerlich ziemlich verändert. Die Baronin hatte ihre püppchenhaften Locken aufgegeben und trug ihr Haar nun zu einem glatten Knoten aufgesteckt. Ihr Prome- nadenkleid machte einen sittsamen, zurückhaltenden Ein- druck: Es war aus braunem Samt gearbeitet und mit schwar- zen Paspeln aufgeputzt, und unter den langen, engen Ärmeln und am hochgeschlossenen Ausschnitt lugte elfenbeinfarbe- ne Spitze hervor. Endlich kleidet sie sich etwas besser, dach- te Alice, und dann ging ihr die tiefere Bedeutung auf. Caro hatte begonnen, Halbtrauer zu tragen. Normalerweise trug eine Witwe zwei Jahre lang nichts als tiefstes Schwarz, und Phillip war erst ein gutes Jahr tot. Alice empfand das als letzte Schmähung ihres Bruders.
Es fiel ihr schwer, sich
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