Gaelen Foley - Knight 07
sich auszuziehen. Dass er das nicht aus Gründen der Lust getan hatte, begriff sie jetzt.
Leider war der Mann ein Meister darin, sein Verlangen zu be- herrschen. Er hatte es ihr befohlen, um sie vollkommen verletz- lich zu sehen. Und warum sollte er das wollen? Weil er nieman- dem traute. Nicht einmal einem harmlosen blinden Passagier.
Er hatte sie nackt sehen wollen, in jeder Beziehung. Nicht nur körperlich, sondern auch mental, gefühlsmäßig. Er hatte das In- nere ihrer Seele sehen wollen, und sie hatte es zugelassen. Wa- rum?, fragte sie sich wieder. Weil sie nichts zu verbergen hatte.
Ah, aber kaum hatte sie hinter seine stählerne Rüstung ge-
späht, diese Aura von Härte und Bösartigkeit, mit der er sich umgab, dann benahm er sich so. Schrie sie an und polterte he- rum wie ein riesiger, furchteinflößender Barbar.
In diesem Moment hörte sie, wie schnelle Schritte näher ka- men. Der Knirps stürmte herein. „Miss Edie! Miss Edie! An Deck! Schnell, schnell!“
„Phineas, was ist los?“
Der Junge rannte zu ihr und packte sie an der Hand. „Kom- men Sie, schnell, ich zeige es Ihnen!“
„Lass mich meine Pelerine ...“
„Nein, dann verpassen Sie es!“ Schon zog er sie von ihrem Stuhl. „Kommen Sie!“
Ein wenig konfus von den Rufen des Jungen, ließ sie sich von ihm nach draußen ziehen, doch kaum hatte sie das Achterdeck betreten, blieb sie wie angewurzelt stehen.
„Sehen Sie!“ Der Junge streckte den Arm aus, aber Eden blickte bereits staunend in die Segel hinauf.
Vor einem schwarzen, mondlosen Himmel tanzte auf dem Spier ein blaues Licht und tauchte die Segel des Schiffs ganz und gar in seine Farbe.
Sie starrte es an, angstvoll und fasziniert zugleich.
Das gespenstische Licht war so hell wie ein Blitzstrahl, lag aber still auf dem Segeltuch, wo es sich nur in der Brise hin und her bewegte.
Wie das Glühen einer blauen Flamme erhellte sein Licht die demütigen Gesichter der Mannschaft an Deck, die im wörtli- chen Sinne starr vor Staunen waren und das Phänomen be- wunderten.
Einige schlugen das Kreuzzeichen, während andere ihre Mützen abnahmen und sie in stummer Andacht an die Brust pressten.
Dann bemerkte sie noch etwas. Der starke Wind, der noch vor einer Viertelstunde geherrscht hatte, war verschwunden.
Sie lagen in einer Flaute.
Als sie sich umsah, entdeckte sie Jack in der Nähe des Besan- masts. Er hatte den Kopf zurückgelegt, während auch er hoch zu der überirdischen Beleuchtung blickte. Er stand ganz still, und seine scharfen Züge wurden von dem seltsamen blauen Schein beleuchtet.
Einen Moment lang starrte Eden den wettergegerbten Kapi- tän der Winds of Fortune an, der einen Kopf größer war als alle
Mitglieder seiner Mannschaft. Wie magisch wurde sie von ihm angezogen, und sie stieg die Leiter zum Poopdeck hinauf und ging auf ihn zu, ohne daran zu denken, dass er böse war mit ihr. In diesem Moment musste sie ihm nahe sein, auch wenn sie nicht wusste, warum. Vielleicht, um dieses Wunder mit ihm gemeinsam zu erleben. Vielleicht trieb die Angst vor dem unbe- kannten Phänomen sie an seine Seite, wollte sie instinktiv bei ihm Schutz suchen, wie sie ihn immer empfunden hatte, wenn er in der Nähe war.
Als sie auf ihn zuging, fühlte sie, dass die Luft aufgeladen zu sein schien wie von Elektrizität. So etwas geschah öfter, ehe ein Sturm einsetzte. Die Härchen auf ihren Armen und an ihrem Nacken stellten sich auf, aber dass ihr Herz so schnell schlug, das lag nur an Jacks Nähe.
Er schien nicht zu bemerken, dass sie ihn beobachtete. Er war warm gekleidet, um die Elemente abzuhalten, trug einen dicken braunen Überrock aus Corduroy und um den Hals einen war- men Wollschal, die Hände geschützt von schweren Arbeitshand- schuhen. Der dunkle Schatten seines Bartes war nachgewachsen und verlieh ihm wieder den Hauch von Wildheit, den sie insge- heim so unwiderstehlich fand.
Einen Moment lang zögerte sie, denn er schien so groß, fern und abweisend wie eine felsige Insel mitten auf dem großen, weiten Ozean. Er wirkte so hart, so stark und so einsam, obwohl er in- mitten seiner Mannschaft stand. Seine Miene war verschlossen und misstrauisch, der Mund zu einer festen, ernsten Linie zu- sammengepresst. Dann wandte er den Kopf und bemerkte sie.
Er starrte sie an, während sie sich vorsichtig näherte, und als sie den harten Ausdruck seiner Augen sah, wollte sie beinah ver- zagen. Selbst wenn sie ihm alles von sich gab, würde sie diesen Mann vermutlich niemals
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