Gaisburger Schlachthof
splitternackt zusammengekrümmt, degenerierte ich zum Tier, das an seinen Fesseln biss. Zähne waren auch beim Menschen noch die sensibelsten Tastorgane. Sie mussten aus einem Kaubrei beispielsweise Gräten herausfiltern, bevor man schluckte. Ihr Nerv analysierte Druckverhältnisse und die Konsistenz von Material sehr viel zuverlässiger als Fingerkuppen oder gar die Zehen des Fußes, den ich ebenfalls einsetzen musste, um das Tapeband dort vom Pfosten zu lösen, wo meine Zähne nicht mehr hinkamen.
Es war eine endlose Geduldsarbeit unter Böen von Panik. Und gut, dass ich absolut nichts sah, sonst wäre ich verzweifelt. Denn dem Auge wäre der Fortschritt minimal erschienen, der mich stoßweise mit wilder Hoffnung erfüllte.
Keine Ahnung, wie viel Zeit verging. Manchmal hörte ich mich keuchen. Dass einem der Schweiß ausbrechen konnte, auch wenn man splitternackt in einem schwarzen Kellergewölbe saß, hatte ich bis dahin nicht gewusst. Aber was wusste ich schon? Den Übergang von Verzweiflung zur Freiheit bekam ich kaum noch mit. Auf einmal zerrte ich mit zitternden Fingern am Klebeband der anderen Hand. Plötzlich war ich frei. In absoluter Finsternis kroch ich über den Boden und suchte meine Klamotten zusammen. Noch eine Krise kam, als ich einen Schuh nicht fand. Fast hätte ich aufgegeben.
Der Kurzschluss hatte das gesamte Licht im Keller gekillt. Der Lichtschalter, auf den ich stieß, reagierte nicht. Ich tastete mich an Wänden entlang, stolperte in eine Treppe, bumste gegen Türen. Geradezu hell kam mir das grünliche Dämmerlicht der Notbeleuchtung in der Maschinenhalle vor. Auf der Uhr an der Säule standen die Zeiger auf kurz vor Mitternacht. Der Eingang war abgeschlossen. Ich verließ das Haus über den Notausgang, was ich gleich hätte tun sollen, hätte ich nur einen Funken Verstand und weniger Selbstgefälligkeit besessen.
21
Als ich auf den Parkplatz bog und dort weder Richard Webers Wagen noch überhaupt ein Auto stehen sah, war es aus. Ohne jede Vorwarnung sprangen mir die Tränen in die Augen. Hät te er nicht warten können? Hätte er nicht warten müssen! Ja, aber warum denn? Vermutlich war er tödlich gekränkt, weil ich ihn ohne Entschuldigung versetzt hatte.
In der Straßenbahn blieben die Blicke der hier und dort in den Polstern Sitzenden ungewöhnlich lange an mir haften. Hatte ich Blut im Gesicht? Meine linken Fingerknöchel waren jedenfalls blutig geschürft und geschwollen. Meine Handgelenke glühten rot.
Als ich in Sallys Ganzkörperbadezimmerspiegel schaute, stellte sich heraus, dass ich zwar kein Blut im Gesicht hatte, dafür aber meine Jeans falsch herum an, auf links gedreht. Wie ich die Knöpfe im Hosenstall überhaupt zubekommen hatte, wird immer ein Rätsel bleiben. Immerhin zwang mich das, die Hosen auszuziehen und mich um die Glassplitter in meinen Schenkeln zu kümmern. Sally besaß glücklicherweise Pinzette, Jodsalbe und reichlich Pflaster.
Senta schaute, in der Badtür stehend, interessiert zu. Auch eine von Sallys Katzen kam gucken. Die Schäferhündin hatte inzwischen gefressen. Allerdings hatte sie auch auf den Teppich gepinkelt und weigerte sich, die Treppen hinunterzugehen. Mir war es recht. Meine Kräfte reichten gerade noch, mich mit einer Packung Pfirsicheis aus Sallys Gefrierfach aufs Sofa zu schleppen und die Fernbedienung in die geschundene Hand zu nehmen.
Im Sportfernsehen zeigten sie Sumo-Ringen.
Die Katzen nahmen rund herum auf Tisch, Stuhl und meinen Knien Platz und schauten mir beim Löffeln zu. Senta versuchte, möglichst heimlich und unauffällig das Sofa zu erklimmen, und sank dann grunzend ins Polster, die Hinterpfoten an meinem Schenkel.
Sumo-Ringen, erfuhr ich vom Kommentator, galt als schwierigste Kampfsportart der Welt. Der kreisrunde Dojo maß nur 4 Meter 55. Wenn der eine Koloss den andern über den Rand geschubst hatte, war der Kampf zu Ende, desgleichen, wenn einer der beiden die Matte mit etwas anderem als den Fußsohlen berührte. Dann war der Ring frei für zwei neue Kolosse, umwallt von rosigem Fleisch, gegürtet mit dem Mawashi, einem Stoffband, das kunstvoll gefaltet um die Hüften geschlungen und zwischen den Beinen durchgezogen wurde, um die kostbarsten Teile zu schützen.
Der Fernseher bebte unter dem Stampfen des Imponiergehabes, bis die Kampfbullen endlich breitbeinig in die Hocke gingen. Der Ringrichter wachte darüber, behauptete der Moderator, dass die rituellen Respektsbezeugungen eingehalten wurden und beide
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