Galgenberg: Thriller (German Edition)
dabeisitzen.«
»Und danach?«
»Danach hat Sophie mich wahrscheinlich heimgebracht, mir etwas zu essen gegeben und mich ins Bett gesteckt. Und abgewartet, bis meine Mutter heimkam, bevor sie selbst nach Hause ging. Sie wohnte nicht bei uns.« Lilith wandte ihr Gesicht ab und atmete tief aus. »Sie könnten mit meiner Großmutter sprechen und sie fragen, wie viel sie noch weiß.«
»Was wird sie mir erzählen?«, fragte Clare.
»Es gab da einen Brief von irgendeiner obskuren Behörde«, erklärte Lilith. »Er traf Monate später ein. Das weiß ich noch, so viel hat mir die alte Hexe dann doch erzählt. Angeblich war meine Mutter in Riedfontein, irgendeinem Kaff mitten im Nichts, begraben worden. Dort war Suzanne, die Revolutionärin, verendet.«
»Und Sophie Xaba?«, fragte Clare. »Wissen Sie, wo sie jetzt lebt?«
»Als Kind war ich auch auf sie wütend. Ich dachte, sie hätte mich ebenfalls im Stich gelassen. Aber meine Großmutter ließ damals nicht zu, dass ich sie sah. Sie meinte, es sei besser, komplett mit der Vergangenheit abzuschließen. Sie zu begraben.« Lilith lachte. »Was für eine Ironie, wenn man bedenkt, was Sie jetzt ausgegraben haben.«
»Erzählen Sie mir von Sophie, Ihrem Kindermädchen«, bat Clare.
»Ich liebte sie so, wie Kinder alle Menschen lieben, die ihnen zu essen geben«, antwortete Lilith. »Gleichzeitig war sie eine bezahlte Mutter. Viele von uns wuchsen damals so auf, nicht wahr? Unsere erste wahre Liebe wurde von jemand anderem bezahlt und mit dem letzten Scheck beendet. Eine befleckte Liebe.«
Lilith drehte die Tasse auf der Untertasse. Sie hatte ihren Kaffee nicht angerührt.
»Sie hatte ihre eigenen Probleme, deutlich schlimmere als ich. Inzwischen ist mir das klar«, sagte sie schließlich.
»Wer hat Ihnen davon erzählt?«
»Ich muss es mir wohl zusammengereimt haben.« Lilith legte den Kopf schief, als lausche sie einem fernen Geräusch. »Aus den vielen Gesprächsfetzen, die einem Kind im Gedächtnis bleiben.«
»Was wissen Sie noch über sie?«
»Dass sie in Crossroads lebte. Und dass ihr Haus plattgemacht wurde. Ihr Sohn verschwand. Die Ladys von Black Sash versuchten, ihr zu helfen. Vielleicht wissen die, ob sie noch am Leben ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Sophies Probleme einfach in Luft auflösten. Wahrscheinlich steht sie immer noch auf der Warteliste für eine Sozialwohnung. Vermutlich sollte ich mich auf die Suche nach ihr machen.«
Lilith fuhr mit dem Finger über ein Foto von Suzanne. Die schlanken, gebräunten Arme waren nackt. Das lange, grüne Kleid. Dichtes, blondes Haar, das in breiten Wellen fiel, genau wie bei Lilith. Die silberne Halskette.
»Meine Mutter nannte mich Lily, daran kann ich mich noch erinnern. Sie sagte immer, ich sei ihre Nachtblume.«
Ein Helikopter knatterte durch den Himmel, und durch das Fenster sahen sie einen Regenbogen aus Wasser darunter. Der Berg stand wieder einmal in Flammen.
»Damals in der Nacht brannte es auch.« Lilith sah Clare an. »Die Pinien da oben. Ich muss sie von meinem Zimmer aus gesehen haben. In Flammen, wie fliegende Feuerbälle. Der ganze Himmel in roten und schwarzen und gelben Van-Gogh-Strudeln.«
»Woran erinnern Sie sich noch?«
»Nichts. Bis gerade eben wusste ich nicht einmal, dass ich mich daran erinnere.« Lilith drehte sich zu Clare um. »Stehen Sie Ihrer Mutter nahe?«
»Meine Mutter starb, als ich achtzehn war.« Clare sah das vertraute Bild vor sich: eine leere Straße, die sich in einer langen Kurve in der kargen Ferne verlor, ein weißer Pick-up, gegen einen Zaun geschleudert, zwei zerschmetterte Körper, eine magere Staubfahne, die dem Horizont über dem Namaqualand zutrieb und ihre Kindheit erstickt hatte.
»Sie und mein Vater. Bei einem Autounfall.«
»Das tut mir leid.«
Die Fenster klapperten im Wind.
»Bei meiner Mutter«, Lilith sammelte die Fotos auf und packte sie weg, »gibt es nur vorher und nachher. So als hätten sich die tektonischen Platten meines Lebens getrennt, und ich wäre auf der falschen Platte weggetrieben worden. Auf der anderen Seite der Kluft ist das Leben, das ich hätte haben sollen. Meine Mutter, die nach Chanel und Zigaretten und Terpentin riecht. Und dann gibt es das hier.«
Clare nahm ihre Hand. Sie spürte die Narbenhöcker innen am Handgelenk. Lilith ließ zu, dass ihre Hand ein paar Sekunden in Clares ruhte.
»Wissen Sie noch, dass ich gesagt habe, ich hätte noch ein weiteres Werk für meine Ausstellung; für die
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