Galgenberg: Thriller (German Edition)
zog seinen Teller zu sich her. »Ich habe gar nicht gemerkt, wie hungrig ich war.«
»Es ist schon spät«, sagte Clare. »Was hast du den ganzen Tag getrieben?«
»Belege kontrolliert, Spesenkonten, Kreditkartenabrechnungen, Treuhandfonds. Glaub mir, das ist noch langweiliger, als Farbe beim Trocknen zuzusehen.«
»Trotzdem muss es gemacht werden.«
»Das bekomme ich dauernd zu hören. War dein Tag angenehmer?«
»Deutlich«, antwortete Clare. »Ich habe die Tochter der Toten aufgespürt.«
»Das hast du in deiner SMS geschrieben. Wer ist sie?«
»Lilith le Roux.«
»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.« Riedwaans Teller war in Windeseile leer, und Clare schob ihm ihren zu. »Bist du schon satt?«
»Ich habe mich mit meiner Freundin Magda de Wet getroffen. Du bist ihr schon begegnet.«
»Bei der Uraufführung deines Dokumentarfilms«, bestätigte Riedwaan. »So wie ich es sehe, hält sie nicht allzu viel von mir.«
»Sie achtet darauf, dass meine Belange nicht zu kurz kommen«, meinte Clare lächelnd. »Wir kennen uns, seit wir sieben Jahre alt waren.«
»Was hat sie dir erzählt?«
»Die Tochter ist Künstlerin. Genau wie ihre Mutter. Ihre Plakate hängen überall in der Stadt. Sie nennt sich nur Lilith.«
»Bestimmt kenne ich den Namen daher«, sagte Riedwaan. »Hoffentlich hilft es ihr, dass sie endlich etwas hat, das sie begraben kann. Du wirst die Verwandtschaft allerdings erst bestätigen müssen. Eine DNA-Analyse ginge am schnellsten.«
»Die Probe aus dem Skelett wurde bereits analysiert«, sagte Clare. »Das hat Mouton arrangiert.«
»Hast du ihr von ihrer Mutter erzählt?«, fragte Riedwaan.
»Nein. Das muss ich noch.«
»Was war los? Warum nicht?«
»Die Begegnung hat mich völlig aus der Bahn geworfen«, gestand Clare. » Sie hat mich aus der Bahn geworfen. Ich wollte mir ihre Ausstellung ansehen, um ein Gefühl für sie zu entwickeln. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihr dort begegnen würde.«
»Wie ist sie so?«
»Sehr schön. Genau wie ihre Mutter. Verstört«, erklärte Clare.
»Klingt, als wäre sie genau dein Typ.«
»Zieh mich nicht auf.«
»Tue ich nicht«, beteuerte er.
»Ich hatte das Gefühl, dass sie gerade einen Weg findet, ihre persönliche Tragödie zu verarbeiten, dass sie allmählich erkennt, wie sie dadurch geformt wurde«, erzählte Clare. »Und plötzlich dachte ich, wozu soll ich das alles wieder aufwühlen? Das ändert nichts. Davon wird ihre Mutter nicht wieder lebendig. Sie wird trotzdem alleine und ungeliebt aufgewachsen sein. Ich weiß nicht, wie ich mit ihr umgehen soll.«
»Verlass dich auf deinen Instinkt. Was rät der dir?«
»Ich weiß es nicht«, bekannte Clare. »Das ist das Problem.«
»Du wirst es ihr sagen müssen.«
»Ich weiß. Ich glaube, genau das macht mich so nervös. Ihr ganzes Leben baut auf dem Wissen auf, dass ihre Mutter sie damals im Stich gelassen hat. Jetzt muss ich ihr erklären, dass ihre Mutter stattdessen ermordet wurde. Das wird nichts daran ändern, dass sie als Waise aufgewachsen ist, aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, das könnte das Gewebe ihrer Identität auflösen, ihr Verständnis davon, wer sie ist.«
»Die Menschen sind gewöhnlich zäher, als man denkt«, meinte Riedwaan. »Schlaf darüber. Morgen wirst du klarer sehen.«
Clare schüttelte den Kopf und legte die Serviette auf den Tisch. »Nein. Ich muss es jetzt gleich tun.«
Liliths Haus stand am Ende des Carreg Crescent. Eine Sackgasse, die letzte Straße vor dem gelblichen Buschland des Signal Hill. Der Fuß des Hanges war ein müllübersätes Niemandsland.
Lilith lebte in Nummer drei. Auf der Rückseite schirmten Pinien das Haus ab, das ein Stück abseits der gesichtslosen Nachbarhäuser stand.
Clare ließ die Hände auf dem Lenkrad liegen und sammelte Kraft.
Und wenn sie sich irrte?
Wenn die Fotos in ihrer Mappe lediglich eine gespenstische Ähnlichkeit zeigten, wenn die Silberkette nichts als Zufall war? Clare öffnete die Mappe und kontrollierte den Inhalt noch mal. Die DNA-Analyse würde bestätigen, was die Bilder ihr sagten. Dann legte sie die Mappe in ihre Handtasche und klappte sie zu. Lilith musste der Schlüssel sein. Eine andere Zeugin gab es nicht.
Sie drückte das Tor auf.
Lilith schob den Türriegel zurück. Sie trug ein Wickelkleid, ihre Wimperntusche war etwas verschmiert.
»Clare Hart«, stellte sie fest. Beim Lächeln wurde eine kleine Lücke zwischen den Vorderzähnen sichtbar. »Kommen Sie mit in die Küche. Sie
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