Galgenberg: Thriller (German Edition)
weggegangen wäre, hätte sie Lily auf jeden Fall nachgeholt. Das habe ich ihnen immer wieder gesagt. Aber keiner wollte auf mich hören.«
Der Knopf lag abgelöst in ihrer Hand.
»Wem haben Sie das gesagt?«, fragte Clare.
»Der Polizei. Miss Suzannes Familie. Ihren Freunden. Aber alle sagten Nein, sie hätten diesen Brief, einen offiziellen Brief. Ich glaube, ihr Vater und ihre Stiefmutter waren froh, dass sie weg war. Denen hat es nicht gefallen, was ihre Tochter machte, was sie redete. Viele Jahre wollten sie nicht mit ihr sprechen. Für die war es einfacher, als sie weg war.«
»Und ihre Freunde?«, wollte Clare wissen.
»Sie hatte nicht viele Freunde«, antwortete Sophie. »Sie war noch nicht lange in Kapstadt. Sie hatte ein paar Bekannte, die Männer, die ihre Bilder kauften. Solche Leute, aber sonst eigentlich niemanden.«
»Und dann, was passierte dann mit mir?«, fragte Lilith.
»Sie haben mich weggejagt«, erklärte ihr Sophie. »Du hast dich an mir festgehalten, aber sie haben dich von mir weggezerrt. Du hast deine Großmutter gebissen, daran kann ich mich noch erinnern. Aber sie haben nicht zugelassen, dass ich bei dir bleibe, und sie wollten auch nicht, dass du mit mir kommst.«
»Was war an jenem Abend los?«, erkundigte sich Clare.
Sophie Xaba schloss die Augen. »Das ist schon so lange her.«
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Clare. »Dann kommt die Erinnerung wieder.«
»Es war derselbe Tag, an dem auch mein Sohn verschwand. Den kann ich unmöglich vergessen. Der hat sich in meine Erinnerung eingebrannt. Für immer.«
»Mrs Xaba, vielleicht können Sie uns erzählen, was Sie in Ihrem Kopf sehen?«
» Eish , es waren schreckliche Zeiten. Der Qualm in den Townships. Hoch oben, überall am Himmel. Der Himmel war schwarz, wenn die Kämpfer Reifen verbrannten, wenn die Polizei und die Witdoeke Häuser niederbrannten. Aber an dem Samstag ging ich trotzdem am Morgen zur Arbeit, ich musste mich schließlich um Lily kümmern. An dem Tag hatte Miss Suzanne ihre Ausstellung, die Party. Ich habe das Mädchen zu ihr nach Hause gebracht. Ich habe ihr zu essen gegeben. Makkaroni mit Käse und Tomatensoße.« Sie lächelte Lily an. »Du hast alles aufgegessen, Lily, so wie immer.«
»Es waren nur Sie beide zu Hause?«, fragte Clare.
»Nur wir beide«, wiederholte Sophie. »Sie war müde. Alle waren auf der Feier für Miss Suzanne. Erinnerst du dich noch, Lily?«
»Nur an Bruchstücke. An ein paar Sachen, die davor passiert waren – dass meine Mutter so schön war. Daran, dass ich am blauen Tisch zu Abend gegessen habe und dass ich so müde war, so schrecklich müde. Aber danach an nichts mehr.« Lilith massierte ihre Schläfen. »Wo ist das alles hin?«
»Das ist das Trauma, Lilith«, meinte Clare. »Es beeinflusst das Gedächtnis, blockt Erinnerungen ab, die allzu schmerzhaft wären.«
»Mir ging das nie so«, sagte Sophie leise. Sie ließ den Knopf von ihrer Strickjacke von einer Hand in die andere fallen. »Ich kann nichts davon vergessen. Scipio, mein Sohn, ist am selben Wochenende verschwunden. Meine Freundin aus der Kirche hatte bei mir angerufen und es mir erzählt. Ich musste ihn suchen gehen. Darum konnte ich dir nicht helfen, meine Lily. Ich musste nach Hause.«
Tränen glänzten in ihren Augen, lösten sich aber nicht.
»Was ist passiert?«, fragte Clare.
»Miss Suzanne kam nach Hause. Die Kleine schlief schon. Der Mann, der sie heimbrachte, fuhr mich heim. Er konnte nicht in die Township fahren, aber er ließ mich kurz davor aussteigen.«
»Wer war das?«, fragte Clare. »Wer hat Sie damals abgesetzt?«
»Ich weiß nicht, wie er heißt«, sagte Sophie. »Er war Miss Suzannes Freund. Ich verschwendete keinen Gedanken an ihn. Ich dachte nur an meinen Sohn, an nichts als meinen Sohn.«
Sie wischte sich über die Augen, schüttelte langsam den Kopf.
» Eish, diese casspirs . Die schießenden Polizisten. Und die Armee. Witdoeke mit pangas und kieries . Überall rannten die Genossen herum. Und mein Sohn war mittendrin. Damals habe ich ihn verloren.«
Lilith schmiegte sich an Sophie Xaba.
»Mein Haus wurde niedergebrannt«, erzählte Mrs Xaba, »und die Häuser aller meiner Nachbarn.«
Die Tür war nur angelehnt, und Clare blickte durch den Spalt auf den winzigen Rasen vor der Tür, auf die Ringelblumen. Über ihnen flog ein Jet den internationalen Flughafen von Kapstadt an und durchschnitt mit seinem Heulen die Stille.
»Was noch?«, bohrte Clare nach. Ihre Stimme beschwor die
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