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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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starrte sie an und suchte ihr Gesicht daraufhin ab, ob sie wirklich meinte, was sie sagte, oder ob sie nur nett sein wollte, weil sie ihn für ein kleines Kind hielt, dem nicht noch mehr Schlimmes zugemutet werden konnte. Nach und nach gewann er jedoch die Sicherheit, dass sie es tatsächlich so meinte. Sie hatte keine Kinder und behandelte ihn nicht wie eines. Er lächelte sie an.
    Sie erwiderte sein Lächeln und berührte ihn flüchtig und sehr sanft an der Wange. Er spürte die Wärme von ihrer Hand durch sich hindurchströmen. Dann wandte er sich ab und lief die Treppe hinauf, ehe Monk ihn erwischen und ihm den Moment irgendwie wegnehmen konnte. Dieser Augenblick war etwas Persönliches, etwas, das nur Hester und ihn anging.
    Am oberen Treppenabsatz angekommen, fasste er sich probeweise an die Wange, einfach um zu fühlen, ob sie noch warm war.
     
    Am nächsten Morgen suchte Hester Oliver Rathbone in seiner Kanzlei auf. Sie schaute nicht vorher in der Portpool Lane vorbei; sie wollte nicht mit Margaret sprechen müssen. Das bereitete ihr Schuldgefühle, da sie so enge Freundinnen gewesen waren. Noch nie hatte sich Hester einer Frau so nah gefühlt, zumindest nicht unter normalen Bedingungen, weit entfernt von den Schrecken des Krieges. Dass sie ihr jetzt wegen Rathbones Auftreten im Prozess und auch wegen ihrer eigenen Angst und Verwirrung aus dem Weg ging, steigerte noch ihr Unbehagen.
    Dennoch konnte sie die Auseinandersetzung mit Rathbone nicht noch länger hinausschieben. Mit dem Pferdeomnibus fuhr sie bis zur London Bridge. Dort stieg sie in einen Hansom, der sie über den Fluss zu Rathbones Kanzlei in der Nähe der Inns of Court brachte. Sein Sekretär erkannte sie auf Anhieb und bat sie mit einer Mischung aus Freude und Verlegenheit herein. Gern hätte sie gewusst, was er von dem Fall Phillips und Rathbones Rolle dabei hielt. Aber natürlich wäre es unschicklich, ihn zu fragen, und er konnte ihr sowieso unmöglich antworten.
    »Es tut mir leid, Mrs. Monk, aber Sir Oliver führt gerade ein Gespräch mit einem Herrn«, entschuldigte sich der Sekretär. »Und ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange es dauert, bis er frei ist.« Er blieb an Ort und Stelle stehen, was einen höflichen Abschreckungsversuch darstellte.
    »Wenn ich darf, warte ich gerne.« Hester blickte ihm unverwandt in die Augen und wich keinen Schritt zurück.
    »Selbstverständlich, Ma’am.« Der Sekretär hatte begriffen, dass sie, egal, was er sagte, die feste Absicht hatte, zu bleiben, entweder in der Kanzlei oder zur Not auch auf der Straße. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee bringen und vielleicht ein, zwei Kekse?«
    Sie strahlte ihn an. »Danke, das wäre äußerst freundlich von Ihnen.«
    Er wusste genau, wann er geschlagen war, und zog sich zurück; allerdings machte ihm diese Niederlage nicht das Geringste aus. Hester überlegte flüchtig, ob sie die bevorstehende Schlacht vielleicht auch für den Sekretär schlagen würde und nicht nur für sich selbst.
    Sie musste noch eine gute Dreiviertelstunde warten, denn kaum war der erste Mandant gegangen, traf der nächste ein, und erst als auch dieser das Haus verließ, konnte sie zu Rathbone ins Büro geführt werden.
    »Guten Morgen, Hester«, begrüßte sie der Anwalt vorsichtig.
    »Guten Morgen, Oliver«, erwiderte sie, während der Sekretär die Tür hinter ihr zuzog.Wie selbstverständlich schritt sie zu dem Stuhl ihm gegenüber an seinem Pult und setzte sich, ohne dass er sie wie sonst immer dazu aufgefordert hatte. »Sie haben sicher viel zu tun, ja, ich habe schon zwei Mandanten kommen und gehen sehen und will Ihnen darum keine Zeit mit höflicher Konversation stehlen. Sie können davon ausgehen, dass ich großes Interesse an Ihrer Gesundheit und Ihrem Glück habe und meinerseits Ihre höflichen Erkundigungen nach meinem Wohlergehen als ausgesprochen betrachte.«
    Mit einem leisen Seufzer ließ er sich hinter seinem Pult nieder.
    »Tee habe ich auch schon getrunken«, fügte sie hinzu. »Er wurde mir äußerst aufmerksam serviert.«
    »Selbstverständlich.« Um Rathbones Lippen spielte der Anflug eines Lächelns. »Kann ich mich dafür entschuldigen, dass ich Sie so lange habe warten lassen, oder wird mein Bedauern ebenfalls als bereits ausgesprochen betrachtet?«
    »Sie haben mich nicht warten lassen«, erwiderte sie. »Ich hatte keinen Termin bei Ihnen.«
    »Oje. Ich sehe schon: Wir werden ehrlich sein, bis … Ach, ich weiß selbst nicht. Wobei werden wir ehrlich sein? Oder werde

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