Galgenfrist für einen Mörder: Roman
hätte sie ihren Eltern abgekauft, um sie Phillips oder seinesgleichen anzubieten. Beweise dafür existierten nicht, aber zu viele von diesen Jungen waren danach in ihrem üblichen Gebiet nicht mehr gesehen worden; auch fand sich niemand, der sagen konnte, wohin oder mit wem sie verschwunden waren.
»Das tut mir leid«, murmelte Squeaky, als sie gegen Abend auf der Isle of Dogs zurück zu den All Saints Stairs strebten, um mit der nächsten Fähre zum Südufer der Themse und dann mit dem Pferdeomnibus zur Rotherhithe Street zu fahren, von wo es nur noch ein kurzer Weg zur Paradise Place war. Squeaky bestand darauf, Hester bis nach Hause zu begleiten, obwohl sie es gewohnt war, allein mit dem Omnibus oder einem Hansom zu fahren. »Kann sein, dass die Moral von Ihrem Durban krumm wie ein Schweineschwanz war«, fügte er unwirsch hinzu.
Hester fiel es schwer, zu sprechen.Was sollte sie jetzt Monk sagen? Sie musste die ganze Wahrheit vor ihm erfahren, dann wäre sie vorgewarnt und könnte irgendetwas unternehmen, um den unvermeidlichen Schock abzumildern. Aber was? Wenn das, was sich heute herauskristallisiert hatte, stimmte, dann übertraf es ihre schlimmsten Befürchtungen! »Ich weiß«, erwiderte sie heiser.
»Wollen Sie trotzdem weitermachen?«
»Selbstverständlich!«
»Das habe ich mir schon gedacht, aber ich musste Sie fragen.« Er musterte sie kurz. »Es könnte noch schlimmer kommen.«
»Auch das weiß ich.«
»Selbst gute Männer haben ihre Schwächen«, brummte Squeaky. »Und Frauen wohl genauso. Die Ihre, denk ich, is’, dass Sie den Leuten glauben. Aber es gibt Schlimmeres.«
»Soll ich dafür dankbar sein?«
»Nein. Ich schätze, das würde Sie verletzen. Aber wenn Sie alles wüssten, wären Sie am Ende noch eingebildet, und das sind Sie Gott sei Dank überhaupt nich’.«
»So weit wird es wohl nie kommen«, erwiderte sie, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen, das Squeaky im flackernden Schein der Straßenlaterne allerdings nicht sah.
Schweigend setzten sie ihren Weg entlang des Ufers fort. Kurz vor den All Saints Stairs trat plötzlich eine Gestalt aus dem Schatten eines Krans. Der Lichtkegel einer Lampe offenbarte das Gesicht, eine feixende gelbe Maske mit schmalen Lippen. Jericho Phillips. Er starrte Hester an, Squeaky ignorierte er.
»Ich weiß, dass Sie Reilly suchen, Miss. Aber ich glaub, Sie wollen ihn nich’ wirklich finden.«
Squeaky war der Schreck in sämtliche Glieder gefahren, doch das überspielte er schnell. »Sie drohen ihr, Mr. Phillips?«, fragte er in übertrieben höflichem Ton.
»Nur ein Rat«, entgegnete der andere. »Ein freundlicher, sozusagen. Weil ich ihr so viel schulde, schätze ich.« Mit einem Grinsen entblößte er seine Zähne. »Ohne ihre Aussage beim Prozess könnte ich jetzt mit dem Hals in der Schlinge am Galgen baumeln.« Er lachte leise vor sich hin; seine Augen blieben tot wie Steine. »Sie würden’ne Menge Dinge erfahren, ohne die Sie viel glücklicher sind, wo Sie Mr. Durban doch so sehr bewundert haben. Glauben Sie mir, Miss, Sie haben mehr davon, wenn Sie die Finger von Reilly lassen. Was mit ihm passiert is’, würd’ Ihnen überhaupt nicht gefallen.«
Eine Fähre bahnte sich mit rhythmisch in den Fluss eintauchenden Rudern ihren Weg durch das ölige Wasser.
»Ein tapferer Junge, der kleine Reilly«, feixte Phillips. »Aber unklug. Hat Leuten getraut, die kein guter Umgang sind – wie die Wasserpolizei. Wusste mehr, als’nem Jungen wie ihm guttut.«
»Sie haben ihn also umgebracht, so wie Sie Fig emordet haben«, stieß Hester bitter hervor.
»War überhaupt nich’ nötig, Miss. Das war nich’ ich, den Reilly verraten wollte. Ich behandle meine Jungs nämlich sehr gut. Alles andere wär’ ja auch dumm. Fragen Sie sie! Sie werden keinen auftreiben, der was Böses über mich sagt. Ich schlag sie nich’, schimpf nich’ und schrei keinen an. Ich versteh was von meinem Geschäft und halte es in Ordnung.«
Sie starrte ihn voller Abscheu an, fand aber keine passende Antwort.
»Denken Sie drüber nach, Miss«, fuhr Phillips fort. »Sie haben’ne Menge Fragen über Durban gestellt. Und was haben Sie dabei rausgekriegt, hä? War ein übler Lügner, was? Hat über alles gelogen, sogar über seine Herkunft. Hat ganz schön oft die Nerven verloren und einige Leute grün und blau geprügelt. Hat bei den einen Verbrechen vertuscht und dafür andere mit Lügen angeschwärzt. Was mich betrifft, könnte ich das wohl auch tun, aber bei
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