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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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»Brauchen die nich’ einen Arzt oder so was?«
    »Es gibt nicht genug Ärzte, um jeden sofort zu versorgen«, erklärte sie und musste unwillkürlich an das Schreien und Stöhnen der entsetzliche Qualen leidenden Männer denken, an die sich vor Schmerzen krümmenden Verwundeten und Sterbenden, an den Geruch von Blut. Damals hatte sie sich nicht überfordert gefühlt; vielmehr hatte sie alle Hände damit zu tun gehabt, sich nützlich zu machen, Wunden zu verbinden, zerschmetterte Gliedmaßen zu amputieren oder Männer davor zu bewahren, an ihrem Schock zu sterben. »Ich habe gelernt, das eine oder andere selbst zu erledigen, wenn es so schlimm um einen Soldaten stand, dass es durch mich nicht noch schlimmer werden konnte. Wenn die Situation verzweifelt ist, versucht man einfach irgendetwas, selbst wenn man gar nicht weiß, womit man anfangen soll. Man kann mit allem Möglichen sehr viel helfen: mit einer Säge, einem Messer, einer Flasche Brandy, Nadel und Faden und natürlich mit so viel Verbandszeug, wie man tragen kann.«
    »Wozu ist denn eine Säge gut?«, fragte Scuff leise.
    Hester zögerte, entschied dann aber, dass Lügen alles nur noch schlimmer machen würden. »Um zersplitterte Knochen durchzusägen, damit man einen sauberen Schnitt machen und alles zunähen kann. Und manchmal muss man einen Arm oder ein Bein ganz abnehmen, wenn Wundbrand entsteht; das ist so ähnlich wie bei fauligem Fleisch. Wenn man da nicht schnell handelt, breitet sich die Fäule auf den ganzen Körper aus, und der Patient stirbt.«
    Scuff starrte sie an, und es kam ihm so vor, als sähe er sie zum ersten Mal. Sie war nicht so schön wie manche andere Frau und ganz gewiss nicht so aufgedonnert wie einige feine Damen, ja, ihre Kleider waren im Vergleich dazu richtig gewöhnlich. Die Frauen, die am Sonntag in der Nähe des Hafens durch die Stra ßen spazierten, trugen auch keine schlechteren Sachen als sie. Aber in ihrem Gesicht hatte sie etwas Besonderes, vor allem in den Augen. Und wenn sie lächelte, hatte man das Gefühl, sie könne Dinge sehen, an die andere nicht einmal dachten.
    Bisher waren Frauen für ihn Menschen gewesen, die nett waren und sich im Haushalt nützlich machten, zumindest die anständigeren. Aber den meisten musste man erst sagen, was sie tun sollten. Außerdem waren sie schwach und, wenn es ans Kämpfen ging, ängstlich. Wichtige Dinge wie Kämpfen, Freunde zu beschützen, darauf zu achten, dass keiner aus der Reihe tanzte, waren eben Männersache. Schlaue Einfälle hatten auch immer die Männer. Das war einfach so.
    Hester lächelte ihn an, aber sie hatte Tränen in den Augen, die sie hastig wegblinzelte, als sie ihm davon erzählte, wie die Soldaten, denen sie nicht hatte helfen können, gestorben waren.Wie sich das anfühlte, das wusste er, dieser Schmerz in der Kehle, der so gewaltig war, dass man nicht mehr schlucken konnte und nur noch in kleinen Stößen Luft bekam, ohne dass es besser und die Tonnenlast auf der Brust leichter wurde.
    Aber weinen, das tat sie dann doch nicht. Er hoffte inständig, dass Monk sie ordentlich versorgte. Sie war wirklich ein bisschen dünn. Und normalerweise hatten echte Damen etwas … Weiches. Jemand musste sich um sie kümmern.
    »Machen Sie noch’ne Scheibe Toast?«, fragte er.
    »Möchtest du noch eine?« Sie hatte ihn falsch verstanden. Nicht seinetwegen hatte er gefragt.
    Er änderte seine Taktik. »Möchten Sie noch eine? Ich mach Ihnen eine. Ich weiß, wie das geht.«
    »Oh, danke. Das wäre sehr nett. Vielleicht sollte ich das Wasser wieder erhitzen?« Sie traf Anstalten, aufzustehen.
    »Das kann ich auch!« Er baute sich vor ihr auf, sodass sie sich wieder setzen musste. »Ich brauch ja bloß den Kessel auf die Platte dort zu stellen.«
    »Oh, danke«, wiederholte sie, wenn auch etwas verdutzt, aber gerne bereit, darauf einzugehen.
    Behutsam schnitt Scuff zwei weitere Scheiben vom Laib, die zwar etwas dick und krumm gerieten, aber deswegen nicht ungenießbar waren, legte sie auf das Backblech und schob es in den Ofen. Es würde keine leichte Sache sein, aber er konnte sich sehr wohl um sie kümmern. Das musste einfach getan werden, und es war seine neue Pflicht. Von jetzt an würde er sie aufmerksam erfüllen.
    Der Toast begann zu rauchen. Scuff drehte die Scheiben gerade noch rechtzeitig um, bevor sie anbrannten. Hier war wirklich Konzentration gefordert.
     
    Hester hatte lange mit sich gerungen, ob sie Scuff mitnehmen sollte, wenn sie wieder loszog, um tiefer

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