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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Shadwell und auf der Isle of Dogs am Nordufer des Flusses sowie Rotherhithe und Deptford im Süden. Bald kam sich Hester vor, als wäre sie die ganze Strecke nach York im Norden Englands marschiert, während sie tatsächlich ihre Kreise durch die immer gleichen engen Straßen zogen, wo es von billigen Absteigen, Tavernen, Pfandleihhäusern und Bordellen nur so wimmelte und sich all die Händler tummelten, die ihre Geschäfte am Fluss machten.
    Squeaky zeigte sich sehr reserviert, was ihre Suche betraf, doch sobald es ans Verhandeln ging, veränderte sich sein Auftreten. Dann verschwand das beiläufige, unauffällige Gebaren, und er nahm eine unterschwellig drohende Haltung an. Er strahlte eine merkwürdige Ruhe aus, und seine Stimme hatte etwas Sanftes, das einen krassen Gegensatz zum lärmenden Treiben ringsherum bildete.
    »Ich denke, Sie wissen es besser, Mr. Kelp«, mahnte er einen Mann fast im Flüsterton. Sie standen in einem als Tabakladen erkennbaren Geschäft, wo die Wände mit dunklem Holz verkleidet waren und das einzige Fenster Rillen aufwies wie der Boden einer Glasflasche. Wenn nicht sämtliche Lampen angezündet gewesen wären, hätte man die ausgestellten Waren gar nicht gesehen. Allerdings verbreiteten sie ein Aroma, das stark genug war, um auf die Gasse hinauszudringen, die Leute in der Nase zu kitzeln und sogar den Gestank von faulendem Holz und menschlichen Exkrementen zu verdrängen.
    Kelp setzte zum Widerspruch an, überlegte es sich dann aber anders. Squeakys regungslose Gestalt in der ausgebleichten gestreiften Hose und dem alten Frack und sein Kopf mit dem strähnigen Haar und dem hageren Gesicht strahlten etwas aus, das ihm Angst einflößte. Eine Aura von Unbesiegbarkeit schien ihn zu umgeben, obwohl er deutlich erkennbar keine Waffen trug. Das war unerklärlich, und alles, was Mr. Kelp sich nicht erklären konnte, jagte ihm Angst ein.
    Er schluckte. »Na ja …«, begann er ausweichend. »Ich hab natürlich so … alle möglichen Dinge gehört, wenn es das is’, worauf Sie aus sind.«
    Squeaky nickte langsam. »Genau so ist es, Mr. Kelp, alle möglichen Dinge, die Sie gehört haben, und zwar Dinge, die genau stimmen, Dinge, die Sie selbst glauben. Und es wäre wirklich sehr klug von Ihnen, wenn Sie niemand anders erzählen würden, dass ich Sie danach gefragt hab und Sie so freundlich waren, mir zu helfen. Es gibt Menschen mit langen, sehr aufmerksamen Ohren, die darüber gar nich’ entzückt wären. Lassen wir sie weiter in ihrer Unkenntnis leben, einverstanden?«
    Kelp erschauerte. »O ja, Mr. Robinson, Sir! Unbedingt!« Er würdigte Hester, die halb verdeckt von Squeaky im Hintergrund wartete, nicht eines Blicks. Sie verfolgte das Gespräch mit wachsendem Staunen. Sie hatte sich an die Zusammenarbeit mit Squeaky in der Klinik gewöhnt und dabei ganz den Mann vergessen, der er früher gewesen war. Eigentlich hatte sie nicht mehr über ihn gewusst als die bloße Tatsache, dass er Eigentümer des Bordells gewesen war, das sich in den Gebäuden in der Portpool Lane eingenistet hatte, ehe Rathbone ihn auf Hesters Betreiben hin gezwungen hatte, die Häuser zu räumen und der Wohlfahrt zu stiften. Allmählich dämmerte ihr das Ausmaß dessen, was sie geleistet hatte.
    Squeaky war ungefähr Mitte fünfzig, doch Hester hatte ihn seit jeher für alt gehalten, weil er immer über den Schreibtisch gebeugt dahockte und ihm sein langes, dünnes graues Haar über den Kragen fiel. Er hatte sich lautstark beklagt, betrogen und ausgenutzt worden zu sein, als wäre er ein Unschuldsengel, den man völlig zu Unrecht seines Vermögens beraubt hatte. Der Mann, den sie jetzt hier im Tabakladen sah, war allerdings alles andere als das. Kelp hatte Angst vor ihm. Die Furcht stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben, ja, sie war zu riechen. Ein Schauer überlief Hester, und in ihr regten sich Zweifel angesichts ihrer Tollkühnheit. Hastig schob sie die Gedanken beiseite.
    Kelp schluckte, dann begann er sein ganzes Wissen darüber auszubreiten, wie Jericho Phillips und anderen Männern seines Schlages Jungen zugeführt wurden. Es war ein trauriger und sehr hässlicher Bericht voller Details über menschliches Versagen und den Opportunismus derjenigen, die Schwächere ausbeuteten.
    Er wusste auch zu berichten, dass Durban Jungen, einige davon nicht älter als fünf, sechs Jahre, beim Diebstahl von Lebensmitteln oder kleineren Gegenständen ertappt hatte. Er hatte sie selten angezeigt, und es wurde angenommen, er

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