Galgenfrist für einen Mörder: Roman
die Schultern straffte. Er holte tief Luft. »Er war kein schlechter Mensch«, murmelte er und warf ihr einen schnellen Seitenblick zu.
»Ich weiß, Scuff.«
»Macht es denn wirklich was aus, wenn er ein paar Lügen darüber erzählt hat, wer er is’ und wo er herkommt?«
»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich hängt das davon ab, was er noch alles getan hat.«
»Sie glauben also, dass es was Schlimmes is’?«
Sie erreichten das Ende der Elephant Lane und bogen rechts ab in die Church Street. Inzwischen herrschte völlige Dunkelheit, und die längs der Straße bis zu ihrem Ende aufgestellten Lampen erinnerten an eine lange Reihe von leuchtend gelben Monden. Vom Wasser stieg an einigen Stellen feiner Dunst auf, der an herrenlos in der Luft schwebende Seidenschals gemahnte.
»Ich glaube, es könnte tatsächlich etwas Schlimmes sein«, gab Hester Scuff zur Antwort. »Aus welchem Grund hätte er sonst gelogen? Das Gute verbergen wir doch normalerweise nicht.«
Er blieb stumm.
»Scuff?«
»Ja, Miss?«
»Du musst damit aufhören, mich mit ›Miss‹ anzusprechen! Möchtest du mich Hester nennen?«
Er blieb abrupt stehen und versuchte, im Halbdunkel ihr Gesicht zu erkennen. »Hester?«, fragte er und ließ sich die Laute auf der Zunge zergehen. »Glauben Sie nich’, dass Mr. Monk mich dann vielleicht schimpft und sagt, dass ich frech bin?«
»Ich werde ihm sagen, dass das mein Vorschlag war.«
»Hester«, wiederholte er versuchsweise, dann grinste er sie an.
Hester lag wach im Bett und dachte über ihre nächsten Schritte nach. Durban hatte mindestens ein Jahr lang versucht, Mary Webber zu finden. Er war ein fähiger Polizist gewesen, doch trotz langjähriger Erfahrung beim Recherchieren, Verhören, Schlussfolgern und Aufspüren war er bei dieser Frau offenbar gescheitert. Wie sollte es dann ausgerechnet ihr gelingen, die Durban gegenüber doch sicher nicht im Vorteil war?
Monk, der neben ihr lag, schien fest zu schlafen. Sie rührte sich nicht, weil sie ihn nicht wecken wollte und weil er nicht merken sollte, wie sehr ihr die ganze Angelegenheit zu schaffen machte. Sie musste alles wissen, was es zu diesem Fall zu wissen gab, damit sie den möglichen Schock abmildern konnte, indem sie Monk die Wahrheit schonend nahebrachte. Wenn es tatsächlich so schlimm war wie befürchtet, würde ihn das zutiefst treffen. Dann würde er so tun, als wäre Anteilnahme eine Schwäche, und das würde alles noch schwieriger machen, weil er nichts mehr an sich heranließe. Und die Einsamkeit würde das Leid verdoppeln.
Durban musste in und um London nach sämtlichen Familien mit dem Namen Webber gefahndet und sie aufgesucht haben. Bestimmt hatte er auch die Spuren derjenigen verfolgt, die hier gelebt hatten und weggezogen waren. Wenn er Mary nicht auf diese Weise gefunden hatte, würde es Hester auch nicht gelingen.
Doch als ihre Lider endlich schwer wurden, kam ihr ein neuer Gedanke in den Sinn. Hatte Durban in Erfahrung gebracht, woher die Leute gekommen waren?
Am Morgen erschien ihr diese Idee überhaupt nicht mehr brillant, aber ihr fiel nichts Besseres ein. Sie wollte es damit versuchen, zumindest so lange, bis sich neue Wege auftaten. Sinnvoller, als nichts zu tun, wäre es allemal.
Es war nicht besonders schwierig, diejenigen ansässigen Familien mit dem Namen Webber aufzuspüren, denen eine Mary von ungefähr passendem Alter angehörte. Allerdings war es eine ermüdende Geduldsarbeit, Gemeinderegister durchzuschauen, Fragen zu stellen und ständig herumzulaufen. Die Leute halfen bereitwillig, vielleicht auch deshalb, weil sie die Wahrheit ein wenig ausschmückte. Aber es stimmte wirklich, dass sie jemanden im Namen eines Freundes suchte, der unter tragischen Umständen gestorben war, ehe er diese Person erreichen konnte. Allerdings hatte sie keine Ahnung, ob diese Mary Webber eine Freundin oder Zeugin gewesen war, eine Helferin oder eine Flüchtige. Wäre es Hester nicht um Monk gegangen, hätte sie wohl aufgegeben.
Am Nachmittag stieß Hester schließlich in einer weiteren Gemeindekirche auf eine Familie, die die richtige zu sein schien – nur um zu entdecken, dass Mary vom örtlichen Findelhaus an Adoptiveltern weitervermittelt worden war, nachdem ihre Mutter bei der Geburt ihres Bruders gestorben war. Diesen Bruder hatten die Adoptiveltern aber nicht nehmen können, da die Frau stark behindert war.
In dieser Gegend gab es nur ein Findelhaus, das infrage kam. Mit dem Pferdeomnibus war es etwa eine halbe
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