Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Stunde dorthin. So wurde Hester eine gute Stunde später zusammen mit Scuff, der sich entschlossen an ihre Fersen geheftet hatte, in das Büro einer gewissen Donna Myers geführt, der tüchtigen und ziemlich steifen Leiterin der Anstalt, die Waisenhaus und Entbindungsheim für ledige Mütter in einem war.
»Nun, was kann ich für Sie tun?«, fragte sie freundlich und musterte Hester von oben bis unten, ehe sie Scuff mit einem abschätzenden Blick bedachte.
»Wir haben sehr viel Arbeit«, erklärte Mrs. Myers Hester. »Der Lohn ist niedrig, aber Sie und der Junge werden genug zu essen haben; drei Mahlzeiten täglich, meistens Porridge und Brot, aber auch Fleisch, wenn wir welches bekommen. Alkohol ist nicht erlaubt, Männerbesuch auch nicht, aber das Haus ist sauber, und wir behandeln niemanden unfreundlich. Ich bin sicher, dass auch der Junge Arbeit finden kann, Botengänge oder etwas in dieser Art.«
Hester lächelte sie an. Dank ihrer eigenen Erfahrungen mit der Führung einer Klinik konnte sie beurteilen, wie streng man trotz allen tiefen und aufrichtigen Mitleids sein musste. Einer Person nachzugeben hieß, eine andere auszurauben.
»Danke, Mrs. Myers, Ihr Angebot freut mich sehr, aber mir geht es nur um Informationen. Ich habe bereits Arbeit und führe selbst eine Klinik.« Sie bemerkte, dass sich Mrs. Myers’ Augen weiteten und Respekt darin aufflackerte, ehe sie wieder einen vorsichtigen Ausdruck annahmen.
»Wirklich?«, fragte die andere. »Und was kann ich dann für Sie tun?«
Hester überlegte kurz, ob sie erwähnen sollte, dass Monk bei der Wasserpolizei war, entschied dann aber angesichts deren gegenwärtig schlechten Ansehens, dass das keine gute Idee wäre. »Ich suche Informationen über eine Frau, die als sechsjähriges Mädchen hierherkam. Das müsste vor gut fünfzig Jahren gewesen sein. Die Mutter war bei der Geburt eines zweiten Kindes gestorben, und das Mädchen wurde adoptiert. Ich glaube, das Baby blieb hier. Ich würde gern erfahren, was in Ihrem Archiv darüber steht. Und wenn es jemanden gibt, der noch weiß, was damals geschah, wäre ich sehr dankbar.«
»Und warum möchten Sie das wissen?« Mrs. Myers studierte Hester nun noch genauer. »Sind Sie mit dieser Familie in irgendeiner Form verwandt? Wie hieß die Mutter überhaupt?«
Auch wenn Hester von vornherein klar gewesen war, dass ihr diese Frage gestellt werden würde, war es ihr peinlich, dass sie die Antwort nicht wusste. »Ich kenne ihren Namen nicht.« Sie hatte keine andere Wahl als die Wahrheit. Alles andere würde sie unaufrichtig wirken lassen. So vieles von dem, was sie sagte, stand ohnehin auf tönernen Füßen, war aber das Einzige, was wirklich Sinn ergab, und außerdem weit weniger hässlich als das, was sie insgeheim befürchtete.
»Mir geht es um das Baby«, fuhr sie fort. »Der Mann wäre jetzt in den Fünfzigern, wenn er nicht vor einigen Monaten gestorben wäre. Ich möchte die Schwester aufspüren und ihr die traurige Nachricht mitteilen. Vielleicht will sie erfahren, was für ein guter Mensch er war. Er tat sein Möglichstes, um sie zu finden, scheiterte aber. Sie werden doch sicher verstehen, warum ich diese Aufgabe für ihn vollenden möchte.«
Was sie da sagte, war eine gewagte Schlussfolgerung. Wenn Durban wirklich in einem Findelhaus auf die Welt gekommen war, konnte das der Grund sein, warum er für sich einen so viel besseren, würdigeren Hintergrund erfunden hatte und dazu eine Familie, die ihn liebte? Armut war keine Sünde, doch viele Menschen schämten sich ihrer. Kein Kind sollte aufwachsen müssen, ohne dass jemand für es da war, der es liebte, für den es über alle Maßen wichtig und kostbar war.
Mitleid ließ Mrs. Myers’ Züge weicher werden. Einen Moment lang wirkte sie jünger, müder und verletzlicher. Hester spürte, wie sie Zuneigung für diese Frau entwickelte, Verständnis dafür, was es bedeuten musste, den Betrieb in einem Heim wie diesem aufrechtzuerhalten, ohne sich vom Ausmaß dieser Verantwortung abschrecken zu lassen. Persönliche Tragödien bekam man hier hautnah zu spüren: die Furcht vor Hunger und Einsamkeit zu vieler Frauen, die erschöpft und verzweifelt waren, weil sie einfach nicht mehr wussten, wo sie den nächsten Schlafplatz, den nächsten Bissen für ihre Kinder ergattern sollten. Jäh wurde Hester von der schrecklichen Einsamkeit einer Frau überwältigt, die an einem Ort wie diesem ihr Kind gebären musste. Sie schluckte, und Tränen brannten ihr in den
Weitere Kostenlose Bücher