Galgenfrist für einen Mörder: Roman
in Durbans Geschichte vorzudringen und zu ermitteln, ob irgendetwas von den Vorwürfen gegen ihn zutraf. Die Entscheidung wurde ihr letztlich von Scuff persönlich aus der Hand genommen. Er kam einfach mit.
»Ich bin mir nicht sicher …«, begann sie.
Er lächelte sie an und machte dabei eine eigenartig wichtige Miene. »Sie brauchen mich«, stellte er kurz und bündig fest und lief neben ihr her, als wäre die Sache damit entschieden.
Hester setzte zu einem Widerspruch an, aber dann fiel ihr nichts ein, womit sie ihm hätte begreiflich machen können, dass sie ihn wirklich nicht brauchte. Und mangels Gegenargumenten akzeptierte sie seinen Standpunkt.
Wie sich bald herausstellte, entpuppte Scuff sich als große Hilfe dabei, die meisten der Leute aufzuspüren, die sie befragen wollte. Es war eine einzige ermüdende Lauferei von einer engen, überfüllten Straße zur nächsten, ein ständiges Argumentieren, Bitten, Flehen um Informationen, damit man anschließend versuchen konnte, die Lügen und Fehler auszusieben, bis man endlich ein Körnchen Wahrheit fand. Auf Letzteres verstand sich Scuff besser als sie. Er hatte ein feines Gespür für Ausflüchte und Manipulationen. Und er war auch schneller bereit, zu drohen oder Täuschungsmanöver zu durchkreuzen.
»Lassen Sie sie nich’ so billig davonkommen«, mahnte er Hester eindringlich, als sie einen Mann mit schwarzem Schnurrbart, so dünn wie ein Strich, und glatter Zunge verließen. »Das is’ ein widerwärtiger …« Er verbiss sich einen üblen Kraftausdruck, der ihm schon auf der Zunge gelegen hatte. »Ich schätze mal, dass es Mr. Durban war, der ihn aus dem Dreck gezogen hat, und jetzt is’ er zu … schäbig, um das zu sagen. Genau, schäbig is’ er!« Er blieb in der Mitte eines schmalen Bürgersteigs stehen und sah mit ernster Miene zu ihr auf.
In diesem Moment schob ein Straßenhändler seinen Karren an ihnen vorbei. Er hatte auf den ersten Blick erkannt, dass Hester ihm nichts abkaufen würde, und trottete weiter.
»Sie hätten nich’ jedem Vollidioten alles glauben dürfen, was er Ihnen andreht«, fuhr Scuff fort, um ihr dann großzügig zuzugestehen: »Na gut, das haben Sie ja auch nich’. Aber in Zukunft werde ich Ihnen sagen, was stimmt und was nich’. Und jetzt sollten wir zusehen, dass wir diesen Willie the Dip finden, wenn es ihn überhaupt gibt.«
Zwei Wäscherinnen drängten sich an ihnen vorbei, ihre Schmutzwäsche in Tücher gewickelt, die sie gegen ihre breiten Hüften stemmten.
»Du bezweifelst, dass es ihn gibt?«
Scuff bedachte sie mit einem skeptischen Blick. »›Dip‹ is’ ein anderes Wort für Taschendieb. Aber wer is’ das in dieser Gegend hier nich’? Ich schätze, dass das nix als Quatsch is’.«
Und er sollte recht behalten. Trotzdem erfuhren sie von den verschiedensten Leuten im ganzen Hafengebiet eine ganze Reihe von Geschichten über Durban. Sie gingen diskret zu Werke, und Hester billigte sich mit einigem Stolz zu, dass sie bei ihren Fragen beträchtlichen Einfallsreichtum bewiesen hatten, um nicht den wahren Grund für ihr Interesse zu verraten.
Die Abenddämmerung hatte schon lange eingesetzt, und das letzte von der glatten Wasseroberfläche reflektierte Licht verblasste, als sie die unter der Princes Street gelegenen Elephant Stairs erklommen. Die Flut strömte mit Wucht herein, das Wasser klatschte gegen die Steinmauern, und der strenge Geruch des Flusses wirkte fast lieblich, nachdem sie sich den ganzen Tag in der stickigen Luft der engen Gassen bewegt hatten und den schweren Gerüchen des Hafens ausgesetzt gewesen waren, wo beim Laden und Löschen aller Arten von Frachten Ausdünstungen in sämtlichen Variationen von stechend bis penetrant, von süß bis ranzig auf einen eindrangen. Die friedlichen Bewegungen des Wassers waren eine Wohltat nach dem permanenten Geschrei, dem Klappern von Hufen, dem Rasseln von Ketten und Winden und dem dumpfen Poltern schwerer Ladungen.
Sie waren müde und durstig. Scuff beklagte sich mit keinem Wort über wunde Füße – wahrscheinlich gehörte das für ihn einfach zum Leben. Hester hatte Schmerzen bis zu den Knien und noch höher, aber angesichts von Scuffs stoischer Ruhe wäre sie sich wehleidig vorgekommen, wenn sie sich beschwert hätte.
»Danke, Scuff«, sagte sie, als sie den Weg zur Paradise Place einschlugen. »Du hattest vollkommen recht: Ich brauche dich.«
»Schon gut«, meinte er leichthin, aber im Schein der Straßenlaterne war zu sehen, dass er
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