Galgenfrist für einen Mörder: Roman
überführt werden.«
»Jericho Phillips?«, fragte Mary leise mit belegter Stimme. »Ist er derjenige, der dahintersteckt?«
»Ja. Wissen Sie etwas über ihn?«
Mary erschauerte und schien sich noch mehr zurückzuziehen. »Ich gehe ihm nach Möglichkeit aus dem Weg. Weiß er … wer ich bin?«
»Durbans Schwester? Nein, ich glaube nicht, dass irgendjemand das weiß.« Mit einem Schlag wurde Hester noch sehr viel mehr klar: die Dringlichkeit, mit der Durban Mary gesucht hatte, aber niemandem, nicht einmal Orme, erklärt hatte, warum; die Sorge um sie, die ihn schier verzehrt haben musste. Wenn Phillips sie vor ihm gefunden hätte, wäre ihr Leben in noch größerer Gefahr gewesen als das irgendeines seiner Jungen. »Und er wird auch nichts von dem erfahren, was ich unternehme«, erklärte sie entschieden. »Ich werde meinen Teil dazu beitragen, dass Phillips gehängt wird. Wenn Sie hier rauskommen, wird er tot sein, und Sie können ein anständiges Leben anfangen und brauchen sich nicht mehr mit Gedanken an ihn abzugeben. Sie werden übrigens ein bisschen Geld haben, und das wäre ganz in Durbans Sinn. Wir haben es sicher für Sie aufbewahrt. Sie sind seine einzige Verwandte. Allein schon deshalb steht es Ihnen zu. Und wenn Sie eine Arbeit suchen und es Ihnen nichts ausmacht, auch mal kräftig mit anzupacken, würde ich Sie gern als Helferin für eine Klinik gewinnen, die ich in der Portpool Lane führe. Denken Sie darüber nach. Es gäbe ein Zimmer für Sie, gute Arbeit und ein paar anständige Freundinnen, mit denen zusammen Sie sie erledigen würden.«
Hoffnung flackerte in Marys müden Augen auf, die so hell leuchteten, dass man fast erschrecken konnte. »Nehmen Sie sich vor Phillips in Acht!«, warnte sie eindringlich. »Er ist nicht allein, verstehen Sie? Er hat dieses Geschäft auf seinem Boot mit Geld aufgebaut, mit ziemlich viel Geld. Äußerlich sieht es nach nichts aus, aber ich habe Fishburn sagen hören, dass es wie die besten Freudenhäuser eingerichtet ist, überaus bequem und modern. Und Fotografiermaschinen sind nicht umsonst zu haben.«
»Ein Investor?«
Mary nickte. »Nicht nur das, Phillips genießt Schutz von höchsten Stellen. Es gibt eine Reihe von Leuten, denen es nicht recht wäre, wenn ihm etwas zustieße, und mindestens einer davon ist in der Justiz ein hohes Tier und hat sich vor Gericht für ihn eingesetzt. Ein wirklich wichtiger Anwalt, nicht einer von denen, die vor dem Gericht herumhängen und hoffen, dass sie sich irgendeinen Fall schnappen können. Ein Queen’s Counsel mit Seidenrobe, Perücke und all diesen Sachen.«
Plötzlich befiel Hester das eisige Gefühl, ohne Aussicht auf Entkommen in einem schrecklichen Verlies für immer hinter Eisentüren eingesperrt zu sein. Sie könnte endlos schreien und gegen die Mauern treten, und niemand würde sie hören. Ein Kronanwalt, einer, der Phillips vor Gericht verteidigt hatte.
»Es tut mir leid«, murmelte Mary betrübt. »Ich kann sehen, dass ich Ihnen Angst eingejagt habe, aber Sie müssen schließlich Bescheid wissen. Nachdem Sie so freundlich zu mir waren, kann ich nicht einfach dasitzen und zuschauen, wie Ihnen etwas angetan wird.«
Das Sprechen fiel Hester auf einmal schwer; ihre Lippen fühlten sich taub an, ihr Mund schien voller Baumwolle. »Ein Anwalt? Sind Sie sicher?«
Mary starrte Hester an, die noch darum kämpfte, all die Abgründe zu begreifen. Den Schmerz der anderen zu verstehen bereitete ihr keine Mühe. »Phillips hat Macht über viele Menschen«, erklärte sie mit gesenkter Stimme, als hätte sie sogar hier, in dem verriegelten Raum, Angst davor, belauscht zu werden. »Vielleicht ist das der Grund, warum mein Bruder ihn nie fassen konnte. Er hat es weiß Gott mit allen Mitteln versucht. Seien Sie auf der Hut. Sie wissen nicht, wen er alles in der Hand hat. Das sind Männer, die ihm für ihr Leben gern entkommen möchten, aber nicht können.«
»Nein«, flüsterte Hester zurück, ohne zu wissen, warum. »Nein, das ist wohl nicht mehr möglich.«
10
Es war Nachmittag, und Monk war damit beschäftigt, einige langweilige Fälle von Diebstahl aus verschiedenen Werften aufzuarbeiten, als einer seiner Männer hereinplatzte und ihm meldete, dass Superintendent Farnham eingetroffen war und ihn zu sprechen wünschte, und zwar unverzüglich.
Farnham, der auf einem Stuhl Platz genommen hatte, dachte gar nicht daran, sich Monks wegen zu erheben. Er war sichtlich unglücklich und äußerst kurz angebunden. Mit einer
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