Galgenfrist für einen Mörder: Roman
zu denken. Ich wünschte …«
Spontan griff Hester nach Marys Hand, die nach wir vor auf der ungehobelten Tischplatte lag. »Ich glaube, er hätte begriffen. Er war ein guter Mensch, und er wusste, dass keiner von uns ohne Fehler ist. Er verabscheute Grausamkeit und war sich nicht zu schade, die Gesetze ein bisschen zu biegen, wenn er verhindern konnte, dass Männer Frauen und vor allem Kinder verletzten. Viele bewunderten ihn, aber es gab auch Leute, die ihn hassten, und nicht wenigen schlotterten vor Angst die Knie, sobald sie seinen Namen hörten. Stellen Sie ihn nicht auf ein Podest, Mary, und glauben Sie auch nicht, dass er Sie auf eines stellte.«
»Zu spät dafür«, erwiderte Mary voller Selbstironie.
»Es ist nicht zu spät dafür, zu helfen, seinen guten Namen wiederherzustellen«, entgegnete Hester in dringendem Ton. »Ich werde mit all meiner Macht dafür kämpfen. Und mein Mann setzt sich noch ungeduldiger dafür ein als ich. Aber ich kann nichts erreichen, ohne die Wahrheit zu kennen. Bitte sagen Sie mir alles, was Sie über ihn wissen, erzählen Sie mir von seinen Eigenschaften, den guten wie den schlechten. Ich mache alles nur kaputt, wenn ich versuche, ihn gegen eine Anklage zu verteidigen, und mich dann lächerlich mache, wenn sie sich in dem einen oder anderen Punkt als stichhaltig erweist. Danach würde mir niemand mehr glauben, selbst wenn ich in der Hauptsache recht hätte.«
Mary nickte. »Ich weiß.« Endlich stellte sie sich Hesters Blick, zwar schüchtern, doch ohne zu blinzeln. »Er war gut, auf seine eigene Weise, aber er hatte ein paar Dinge zu verbergen. In seiner Kindheit ging es heftig zur Sache. Er musste betteln und schnorren, und es würde mich nicht wundern, wenn er auch mal gestohlen hat. Das Waisenhaus musste ihn auf die Straße setzen, als er acht Jahre alt wurde. Sie hatten keine andere Wahl. Ich war diejenige, die Glück hatte. Erst als die Webbers ihr Geld verloren, hab ich am eigenen Leib erfahren, was es heißt, zu hungern. Ich meine, die Art von Hungern, bei der der Schmerz von innen kommt und man an nichts anderes als an Essen denken kann … egal was, Hauptsache, es füllt irgendwie den Magen. Er hat das von Anfang an gekannt.«
Hester war tief bewegt. Sie brauchte sich dieses Elend nicht auszumalen, hatte sie es doch in zu vielen Gesichtern gesehen. Aber sie unterbrach Mary nicht.
»Er trieb sich mit einigen üblen Kerlen herum. Das weiß ich, weil er das nicht vor mir verheimlichte. Aber ich hab ihn deswegen nie geschimpft. Das Allerwichtigste war für mich, dass er am Leben blieb.« Mary atmete tief durch. »Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie schlimm das war, denn sonst hätte ich mich zu Tode geängstigt.«
Hester ließ Marys Hände los. Ihre Muskeln hatten sich immer mehr verkrampft.
Mary nickte kaum merklich vor sich hin. »Er hatte einige wirklich üble Freunde am ganzen Fluss, vor allem in Limehouse und auf der Isle of Dogs. Dann wurde eine Bank ausgeraubt, und drei Jungen wurden ins Coldbath Fields gesteckt. Einer starb dort. Der arme Kerl war doch erst dreiundzwanzig. Die anderen zwei wurden dort krank gemacht. Nach ihrer Freilassung hat sich einer um den Verstand getrunken. Als sie eingesperrt wurden, ging mein Bruder zur Wasserpolizei. Ich hab ihn nie gefragt, ob er an der Sache mit der Bank beteiligt war, und er sprach auch nie darüber. Ich wollte nicht, dass er dachte, ich hätte ihm das zugetraut, aber ich verdächtigte ihn wirklich. Er war ganz schön wild damals, und er konnte böse werden wie die Aale, wenn sie schnappen.«
Sie seufzte. »Danach veränderte sich alles. Offenbar hatte ihn eine Höllenangst gepackt; er kehrte nie mehr zu seinen alten Gewohnheiten zurück. Daran liegt es wohl auch, dass er ein so guter Polizist wurde – er hat beide Seiten gekannt. Es wird Ihnen vielleicht nicht gelingen, zu helfen oder den Leuten die vielen guten Seiten an ihm zu zeigen, aber ich wäre Ihnen mein Leben lang dankbar, wenn Sie es versuchen würden.«
Hester betrachtete die gebrochene, einsame Frau und wünschte sich sehnlichst, sie könnte ihr mehr als nur Worte bieten.
»Natürlich werde ich das mit allem, was ich aufzubieten habe, versuchen. Mein Mann schätzte Durban mehr als jeden anderen Menschen, den er kannte. Ich selbst mochte ihn, obwohl wir uns nicht oft begegnet sind. Aber es geht um noch mehr: Der gute Ruf der Wasserpolizei hängt nun davon ab, dass Jericho Phillips und all jene, die mit ihm unter einer Decke stecken, der Lüge
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