Galgenfrist für einen Mörder: Roman
dem matten Licht war es nur undeutlich zu erkennen, aber es verriet ihr, dass er nicht verstimmt war.
Sie wurde in eine Zelle gebracht, die mit nichts als einem Holztisch und zwei Stühlen ausgestattet war. Einen Moment später führte die Wärterin eine Frau von ungefähr Mitte fünfzig herein. Sie war mittelgroß und hatte ein eingefallenes Gesicht. Bei näherem Hinsehen erkannte Hester, dass sie trotz ihrer Blässe und Angst hübsch war und dieselben goldbraunen Augen hatte wie Durban.
Sie setzte sich, als Hester sie dazu einlud, tat das aber sehr langsam und steif.
Hester nahm ebenfalls Platz, als die Wärterin ankündigte, dass sie draußen vor der Tür stehen würde, falls sie benötigt werden würde, und dass sie dreißig Minuten Zeit hatten. Dann ließ sie sie allein.
Hester lächelte. Ihr größter Wunsch war es im Moment, einen Weg zu finden, wie sich die Furcht der Frau lindern ließe, ohne gleichzeitig ihre eigene Mission zu gefährden.
»Mein Name ist Hester Monk«, begann sie. »Mein Mann ist jetzt Kommandant der Wasserpolizei in Wapping, die Stelle, die Ihr Bruder innehatte.« Sie geriet ins Stocken. Plötzlich fragte sie sich, ob Mary wusste, dass er tot war. War sie jetzt womöglich unglaublich plump gewesen?Wie lange war es her, dass Mary und Durban sich zuletzt begegnet waren? Was hatten sie füreinander empfunden?
Mary neigte leicht den Kopf. Vielleicht die Andeutung eines Nickens?
Sie durfte nicht länger um den heißen Brei herumreden. Hester senkte die Stimme. »Hat Ihnen jemand mitgeteilt, dass er nicht mehr lebt, dass er zur Jahreswende heldenhaft gestorben ist? Er hat sein Leben geopfert, um viele andere zu retten.« Sie verstummte und beobachtete die Frau.
Mary Webbers Augen füllten sich mit Tränen, die ihr ungehemmt über die Wangen rannen.
Hester zog ihr Taschentuch aus ihrem kleinen Retikül und legte es vor Mary auf den Tisch. »Es tut mir leid. Ich wünschte, ich müsste Ihnen diese Nachricht nicht überbringen. Er hat Sie verzweifelt gesucht, aber soviel ich weiß, hat er Sie nicht gefunden. Ist das wahr?«
Mary schüttelte den Kopf. Sie streckte die Hand nach dem weißen Baumwolltaschentuch aus, dann zögerte sie. Verglichen mit ihrer grauen Gefängniskleidung war es blendend weiß.
»Bitte …«, ermunterte Hester sie.
Mary griff danach und presste es sich an die Wange. Es war dezent parfümiert, aber für derartige Details hatte sie in diesem Moment wohl keinen Sinn.
Hester fuhr fort. Ihr war klar, dass die Minuten gnadenlos verrannen. »Mr. Durban war ein Held für seine Männer, aber es gibt andere, die jetzt versuchen, die Wasserpolizei zu zerschlagen, und um das zu erreichen, schwärzen sie seinen Namen an. Ich habe bereits in Erfahrung gebracht, wo er geboren wurde und die ersten paar Jahre seines Lebens verbrachte. Ich habe mit Mrs. Myers gesprochen …« Sie sah ein Lächeln über Marys Lippen huschen, doch es war matt und kam kaum gegen die Trauer an. »Ich weiß, dass Sie immer Geld gespart haben und ihm so viel schickten, wie Sie konnten. Wissen Sie, was aus ihm wurde, als er das Waisenhaus verließ?«
Mary blinzelte und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ja. Wir blieben lange miteinander in Verbindung.« Sie schluckte. »Bis mir klar wurde, was für ein Mann Fishburn war.« Sie senkte die Augen. »Danach schämte ich mich und ging ihm aus dem Weg. Als Fishburn beim Betrügen ertappt wurde und ins Gefängnis kam, änderte ich meinen Namen und zog weg. Nach seinem Tod habe ich das Haus verkauft. Vorher hatte ich das nicht gewagt, aus Angst, er könnte freigelassen werden oder mir nachspionieren lassen.« Sie sprach mit fast unhörbar leiser Stimme und schaute kein einziges Mal zu Hester auf.
»Danach führte ich eine Pension und …«
»Sie müssen nicht darüber sprechen«, unterbrach sie Hester. »Ich weiß, was dazu geführt hat, dass Sie jetzt hier sind. Ich nehme an, dass das der Grund ist, warum Ihr Bruder Sie nicht finden konnte.«
Mary sah auf. »Ich wollte nicht, dass er erfuhr, wohin sie mich gesteckt hatten. Ich nehme an, dass die wenigen, die mich kennen, ihm irgendetwas vorschwindelten, um das vor ihm zu verbergen. Sie werden gewusst haben, dass ich einfach nicht wollte, dass von allen Menschen er … Als er klein war, sah er doch immer zu mir auf. Wir...« Sie senkte erneut die Lider. »Wir waren uns damals sehr nahe … so nahe, wie man sich nur sein kann, wenn … wenn man sich kaum begegnet. Aber ich habe nie aufgehört, an ihn
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