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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wertvollsten Freundschaften. Und das alles hatte er, so grässlich das war, direkt vor der Öffentlichkeit getan. Warum nur, um Gottes willen? Aus Eitelkeit? Um sich zu beweisen, dass er mit seiner Brillanz alles erreichen konnte? Brillanz – ja, die besaß er; aber in diesem Fall legte sich ein Schatten auf seine Ehre, und Klugheit hatte er überhaupt nicht bewiesen.
    Ja, morgen musste er in Ballingers Kanzlei versuchen, die Unterlagen zu finden. So unerträglich es war, er hatte keine Wahl. Sich zu einer Entscheidung durchzuringen war das eine, etwas ganz anderes war es, den Plan in die Tat umzusetzen. Als ihn sein Hansom am nächsten Morgen vor Ballingers Kanzlei absetzte, wurde ihm klar, wie weit – oder nahe – Ballinger in diesem Moment war. Aus früherer Erfahrung wusste er, dass Ballinger noch mindestens eine Stunde außer Haus sein würde, aber der treue Cribb war immer zur Stelle. Hätte die Kanzlei einem anderen als seinem Schwiegervater gehört, hätte er sich ernsthaft bemüht, Cribb abzuwerben, damit er in seine Dienste trat.
    »Guten Morgen, Sir Oliver«, begrüßte ihn der Sekretär mit einer Freundlichkeit, die fast schon an echte Freude grenzte. Er war ein Mann Mitte vierzig, wirkte aber aufgrund seiner asketischen Erscheinung älter. Er war von durchschnittlicher Größe und hatte ein hageres, knochiges Gesicht, das hohe Intelligenz und feinen Humor erkennen ließ.
    »Guten Morgen, Cribb«, antwortete Rathbone. »Ihnen geht es gut, wie ich hoffe?«
    »Sehr gut, danke, Sir. Mr. Ballinger ist leider noch nicht zurück. Gibt es irgendetwas, womit ich Ihnen dienlich sein kann?«
    Schon jetzt verabscheute Rathbone sich selbst für sein Vorhaben. Wie viel leichter es doch war, ehrlich zu sein! Was er hier tat, war einfach zu peinlich! Ganz zu schweigen von der Belastung, die es bedeutete.
    »Danke.« Er musste schnell handeln, sonst verlor er noch die Nerven. »Ich glaube, Sie können tatsächlich etwas für mich tun.« Er senkte die Stimme. »Mir ist zu Ohren gekommen – selbstverständlich darf ich mich nicht dazu äußern, durch wen -, dass einer von Mr. Ballingers Mandanten in unethische Machenschaften verwickelt sein könnte. Eine Angelegenheit, bei der eine Person gegen eine andere ausgespielt wird, wenn Sie verstehen?«
    »Wie schrecklich«, antwortete Cribb mit sorgfältig dosierter Anteilnahme. »Wenn Sie möchten, dass ich Mr. Ballinger informiere, werde ich das selbstverständlich tun. Oder würden Sie es vorziehen, eine eigene Mitteilung zu hinterlassen? Ich kann Ihnen Stift und Papier sowie einen Umschlag mit Siegelwachs bringen.«
    Mit einiger Anstrengung unterdrückte Rathbone seine Skrupel. »Danke, aber im Augenblick kann ich keine Angaben machen, die hinreichend präzise wären.Wenn ich einen Blick auf die für den fraglichen Zeitraum relevanten Seiten seines Terminkalenders werfen dürfte, würde das meine Vermutungen sofort bestätigen oder widerlegen.«
    Cribb zeigte sich bekümmert, wie Rathbone es erwartet hatte. »Es tut mir sehr leid, Sir, aber ich kann Ihnen Mr. Ballingers Terminkalender nicht zeigen. Er ist, wie sicher auch Ihrer, streng vertraulich.« Er verlagerte unauffällig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß natürlich, dass Sie nie … unredliche Absichten verfolgen würden, Sir.«
    Rathbone musste sich nicht darum bemühen, verwirrt dreinzuschauen. »Ganz gewiss nicht. Ich hatte nur gehofft, Sie könnten mir vielleicht eine Lösung für mein Dilemma vorschlagen, nachdem ich es Ihnen präsentiert habe. Verstehen Sie, die Schwierigkeit liegt darin, dass der Mann womöglich ein persönlicher Freund von Mr. Ballinger ist, und zwar ein so enger, dass dieser sich weigern würde, ihm so etwas zuzutrauen, bis es zu spät ist. Es sei denn, ich kann es beweisen.«
    »O Gott«, sagte Cribb leise. »Ja, ich kann Ihre Lage nachvollziehen, Sir Oliver. Ich fürchte, Mr. Ballinger ist in einigen seiner Beurteilungen wohlmeinender, als die Umstände dies rechtfertigen.«
    Rathbone begriff sofort. Das war Cribbs loyale Art und Weise, zuzugeben, dass sein Arbeitgeber nicht alle seine Freunde mit der gebotenen Sorgfalt auswählte.
    »Könnten wir dieses Problem vielleicht in meinem Büro erörtern, Sir?«, schlug Cribb vor. »Dort wären wir ungestört.«
    »Selbstverständlich, danke.« Rathbone folgte dem Sekretär in einen winzigen Raum, kaum größer als eine Kammer, wo sich ein liebevoll polierter Schreibtisch zwischen die Wände zwängte, an denen sich vom

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