Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Boden bis zur Decke Regale voller Ordner türmten. Cribb schloss die Tür, nicht nur, damit niemand mithören konnte, sondern auch, um mehr Platz für den Besucherstuhl zu schaffen. Er warf einen Blick auf die Ordner und Akten an der Wand, die alle in peinlicher Ordnung aneinandergereiht waren.
Rathbone entdeckte den Terminkalender für den fraglichen Monat.
»Das ist in der Tat ein erhebliches Problem«, murmelte Cribb, nun wieder an Rathbone gewandt. »Ich weiß wirklich nicht, was hier das Beste wäre, Sir Oliver. Ich habe den größten Respekt vor Ihnen und bin mir bewusst, dass Ihnen Mr. Ballingers Wohlergehen am Herzen liegt, und zwar in beruflicher wie in persönlicher Hinsicht. Ich muss daher gründlich über Ihre Bitte nachdenken. Darf ich Ihnen mittlerweile eine Tasse Tee bringen, damit wir das Thema in einer behaglicheren Atmosphäre erörtern können?«
Rathbone akzeptierte sofort. »Danke. Das wäre sehr freundlich von Ihnen.«
Kurz zögerte Cribb, die Augen auf Rathbone gerichtet, dann entschuldigte er sich, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Rathbone fühlte sich schäbig, als wäre er drauf und dran, etwas zu stehlen. Der Terminkalender lag auf dem Regal. Alles Weitere war nun seine Sache. Ob er hineinschaute oder nicht, Cribb würde in jedem Fall vermuten, dass er es getan hatte. Er hatte ihm das Angebot gemacht, und darin bestand der Verrat an Ballinger, nicht in dem, was sich daraus ergab.
Nein, das war gelogen. Mit Cribb hatte das nichts zu tun. Er benutzte ihn nur als Ausrede. Cribb glaubte tatsächlich, dass es galt, Ballinger vor seinem schlechten Urteilsvermögen zu retten.
Und worum ging es Rathbone? Allein um die Wahrheit – wen immer sie rettete oder ins Verderben stürzte.
Er nahm das Buch vom Regal und überflog die relevanten Seiten. In Windeseile kritzelte er die Namen auf einen Zettel. Kaum hatte er den Terminkalender zugeklappt und wieder an seinen Platz gestellt, kehrte Cribb auch schon zurück. Allerdings machte er mit polternden Schritten auf sich aufmerksam, ehe er die Tür öffnete.
Schweigend stellte er das Teetablett auf dem Schreibtisch ab.
»Danke«, krächzte Rathbone mit ausgetrocknetem Mund.
»Darf ich Ihnen einschenken, Sir?«, erbot sich Cribb.
»Gern, danke.« Rathbone merkte, dass seine Hände zitterten. Er überlegte, wie er Cribb seinen Dank zeigen konnte. Was wäre passend und nicht verletzend? Dreißig Silberlinge etwa?
Cribb schenkte Rathbone eine Tasse ein, sich selbst nichts.
Noch nie war es Rathbone derart schwergefallen, etwas zu trinken. Der Tee schmeckte sauer, und ihm war völlig klar, dass er selbst ihn vergiftet hatte.
»Danke«, sagte er mit belegter Stimme. Eigentlich wollte er noch etwas hinzufügen, aber alles, was ihm in den Sinn kam, hätte gekünstelt und verletzend geklungen.
»Gern, Sir Oliver«, antwortete Cribb ruhig. Ihm schien an Rathbones Gebaren nichts Merkwürdiges ins Auge zu springen, nicht einmal sein schreckliches Unbehagen. »Ich habe eingehend über diese Angelegenheit nachgedacht, leider ohne Erfolg.«
»Es war ein Fehler, Sie mit dieser Frage zu behelligen«, erwiderte Rathbone. Und wenigstens in dieser Hinsicht war er sich absolut sicher. »Ich muss eine andere Lösung finden.« Er trank die Tasse leer. »Bitte beunruhigen Sie Mr. Ballinger nicht damit, solange ich nicht weiß, wie ich ihm das Problem schonend beibringen kann. Wenn ich Glück habe, stellt sich das Ganze ja als Irrtum heraus.«
Cribb nickte. »Wollen wir es hoffen, Sir. Bis dahin wäre es wohl in der Tat besser, Mr. Ballinger nicht unnötig aufzuregen.«
Rathbone bedankte sich noch einmal, und Cribb begleitete ihn zur Haustür. Während er mit schweren Schritten die Stufen zur Straße hinunterstieg, fühlte sich Rathbone in seinem Inneren gefangen und von einem moralischen Dilemma, aus dem es kein Entrinnen gab, unerbittlich in die Tiefe gezogen.
Er eilte auf kürzestem Weg in sein Büro, wo er die nächsten Stunden damit verbrachte, Aufzeichnungen über Fälle, die er kannte, zu studieren und die Termine von vergangenen und bevorstehenden Gerichtsverhandlungen mit den aus Ballingers Kalender abgeschriebenen Namen abzugleichen. Jeden Fall verfolgte er bis zu seinem Abschluss und vermerkte jeweils, wer der Angeklagte war, was ihm zur Last gelegt wurde, wer ihn verteidigte und wie das Urteil gelautet hatte. Es war eine mühselige Arbeit und diente praktisch nur dazu, auszuschließen, dass eine dieser Personen Ballingers
Weitere Kostenlose Bücher