Galgenfrist für einen Mörder: Roman
den Kummer, der von außen herangetragen wird, erträglich gestalten.
Hester hatte Angst vor dem, was Monk über Durban erfahren würde. Es würde ihn zutiefst verletzen. Deshalb musste sie diejenige sein, die als Erste damit konfrontiert wurde. Dann würde sie ihn schützen können – oder zumindest Seite an Seite mit ihm alles durchschreiten können, was vor ihnen lag.
Sie folgte Sutton in einen dunklen Eingang zur nächsten Person, die er in ihrem Namen befragen wollte.
5
Monk verließ sein Haus und lief auf den Anlegesteg für die Fähren zu. Seine Sorgen und Schuldgefühle waren über Nacht nicht weniger geworden – im Gegenteil. Unter ihm lag der Fluss im hellen Morgenlicht. Es ging dort bereits lebhaft zu. In beide Richtungen fuhren schwer beladene Lastkähne, dunkle Schatten unter den aufs Wasser fallenden Sonnenstrahlen. Monk hatte allerdings nur einen Gedanken im Kopf: Phillips war frei. Nicht nur dem Gefängnis und seiner Hinrichtung war er entronnen, sondern auch jeder weiteren Anklage wegen Figs Ermordung. Egal, welche Beweise Monk jetzt noch beibrachte, sie durften nicht mehr gegen Phillips verwendet werden. Konnte man noch umfassender scheitern?
Er überquerte die Rotherhithe Street und trottete durch die enge Gasse zu den Princes Stairs. Die Gerüche von Salz und Schlamm hingen schwer in der Luft. Es war noch nicht neun Uhr, aber die Sonne stand bereits seit Stunden am Himmel und brannte auf die Stadt herunter. Kaum ein Lüftchen regte sich, um die Hitze zu lindern. Aus einer Entfernung von etwa zweihundert Metern drangen die Rufe von Leichterschiffern und Schauermännern zu Monk herüber. Die Flut hatte ihren Höhepunkt erreicht, und das ölig wirkende Wasser schwappte träge gegen die Kaimauer. Die Strömung war zu schwach, um die vor Anker liegenden Schiffe zu bewegen, sodass das Gewirr von Masten und Spieren reglos in den Himmel ragte.
Er hatte die Gelegenheit gehabt, Phillips zu töten, und es war seine eigene Arroganz gewesen, die ihn seines Triumphs so sicher gemacht hatte, dass er den Sieg aus der Hand gegeben hatte. Viel zu sehr hatte er sich auf Durbans guten Ruf verlassen und darauf, dem Gericht und der Öffentlichkeit demonstrieren zu können, wie recht Durban gehabt hatte. Und er hatte unbedingt derjenige sein wollen, der das tat. Damit hätte er sich endlich den Respekt seiner Männer verdient. Sie hätten gesehen, dass er seine Schuld an Durban bezahlt, dass er sich seine Stelle mit einer gewissen Berechtigung verdient hatte und sie ihm nicht einfach zugeschanzt worden war.
Nur war ihm nichts dergleichen gelungen. Im Gegenteil! Er hatte dafür gesorgt, dass Phillips davon befreit war, den Preis zu bezahlen, nicht nur jetzt, sondern für alle Zeiten. Es stand ihm frei, auf sein Boot zurückzukehren und all die Kinder mitzunehmen, die jetzt hoffnungsloser denn je zu einem traurigen Dasein in diesem Gefängnis verdammt waren.
Eine Fähre stieß gegen die Stufen, und der Ruf des Schiffers riss Monk aus seinen Gedanken.
Er gab sich einen Ruck und stieg hinunter. Er brauchte nichts zu sagen. Da er diesen Weg jeden Morgen fuhr, kannten ihn die meisten Schiffer. Ein Nicken zur Begrüßung, mehr war nicht nötig. Außerdem wusste wahrscheinlich schon die halbe Stadt über den Ausgang des Prozesses Bescheid. Vielleicht hatten die Leute ja Mitleid mit ihm, aber bestimmt verachteten sie ihn auch. Phillips und wohl auch Rathbone hatten ihn zum Narren gehalten. Aber wenn er ehrlich war, hatte vor allem er selbst sich gründlich blamiert. Mit etwas Glück hätte das kein Nachspiel gehabt, aber es ließ sich nicht daran rütteln, dass er zu viel für selbstverständlich genommen hatte. Er hatte zugelassen, dass ihm Emotionen den Verstand trübten, und infolgedessen Fehler gemacht. Es gab nichts, was er dem Fährmann hätte sagen können. Überhaupt gab es nichts mehr zu sagen, egal zu wem, solange er nicht irgendetwas aus diesem Trümmerhaufen retten konnte.
Am anderen Ufer bei den Wapping New Stairs angekommen, entrichtete er den Fahrpreis und erklomm die wenigen Stufen zum Kai.
Oben wartete ein Junge auf ihn. Er war dünn und drahtig, und sein Gesicht wirkte lebhaft. Über den Kopf hatte er sich eine Mütze gezogen, die fast sein gesamtes Haar verbarg. An seinem zerlumpten Hemd fehlten mehrere Knöpfe, und seine Hosenbeine waren verschieden lang, was seine Schuhe voll zur Geltung brachte, einer braun, der andere schwarz. Er schien etwa zehn oder elf Jahre alt zu sein.
»Ein
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