Galgenfrist für einen Mörder: Roman
die in der hereinströmenden Flut gegen die Kaimauer klatschten, oder auf die Rufe der Leichterschiffer und Schauermänner, die hundert Meter vor ihnen einen Schoner von den Westindischen Inseln entluden.
»Das ist ja noch schlimmer, als ich dachte«, brummte Monk nach einer Weile. Er musste sorgfältig auf seine Formulierungen achten, sonst merkte Scuff am Ende noch, dass er ihn schützte, und nahm ihm das übel. »Ich möchte dich wirklich nicht in diese Sache hineinziehen, denn sie ist sehr gefährlich. Andererseits glaube ich nicht, dass Orme und ich ohne deine Hilfe zurechtkommen. Zu dir haben viele Jungen Vertrauen. Mit uns würden sie nicht sprechen, es sei denn, du bist dabei und überredest sie dazu.«
Scuffs schmale Schultern waren so angespannt, als erwartete er, gleich geschlagen zu werden. Das war der einzige sichtbare Ausdruck seiner Angst. Er blieb stehen und drehte sich, die Hände in den Taschen, langsam zu Monk um. Seine dunklen Augen wirkten hohl und verrieten Verlegenheit über seine eigene Schwäche. »Ja?« Er hatte den verzweifelten Wunsch, den vermeintlich an ihn gestellten Erwartungen zu entsprechen.
»Ich denke, wir werden dich die ganze Zeit bei den Vernehmungen benötigen, bis wir Phillips schnappen«, sagte Monk beiläufig und setzte sich wieder in Bewegung. »Ich weiß, dass das für dich ein Opfer wäre, aber wir werden schon einen ordentlichen Schlafplatz für dich auftreiben, wo du die Tür hinter dir zumachen und allein sein kannst. Und es gäbe natürlich auch Essen.«
Scuff war zu verblüfft, um weiterzugehen. Wie festgewurzelt stand er da. »Essen?«
Monk hielt an und drehte sich zu ihm um. »Na ja, ich kann es mir nicht leisten, dich jeden Tag zu suchen. Dafür habe ich keine Zeit.«
Plötzlich begriff Scuff. Sein Gesicht hellte sich vor Freude auf, bevor er rasch einen Ausdruck von Würde annahm, wie er ihm angemessen erschien. »Das lässt sich wohl deichseln«, erklärte er großzügig. »Natürlich nur so lange, bis Sie ihn haben.«
»Danke«, sagte Monk, der sich fast sicher war, dass Hester es ebenso für notwendig erachten würde, Scuff in ihrem Haus aufzunehmen, solange Jericho Phillips in Freiheit war, wie lange das auch immer dauern mochte. »Gut, dann lass uns losziehen! Als Erstes müssen wir den Jungen finden, der Fig anhand von Durbans Zeichnungen identifiziert hat. Vielleicht erinnert er sich an mehr Einzelheiten, wenn wir die richtigen Fragen stellen.«
»Genau!«, rief Scuff im Brustton der Überzeugung. »Vielleicht tut er das.«
Es dauerte jedoch den Rest des Tages, bis sie den Jungen auftrieben, und es bereitete ihm sichtlich großes Unbehagen, mit Monk zu sprechen, egal worüber. Sie standen in der schmalen Mündung eines Durchgangs zum Shadwell Dock. Der Fluss zog sich mit Einsetzen der Ebbe langsam zurück. Ein paar Schritte von ihnen entfernt floss das Wasser über die Treppe und ließ auf den obersten Stufen eine schleimige Schicht zurück. Im neuen Hafenbecken schaukelte ein großes Schiff, dessen Masten und Rahen sich vor dem verblassenden Himmel schwarz abzeichneten.
»Ich weiß sonst nix«, beteuerte der Junge in flehendem Ton. »Ich hab Ihnen doch schon gesagt, wer alles dabei war. Und Mr. Durban hab ich dasselbe gesagt. Ich hab keine Ahnung, wer ihn abgemurkst hat, und kann Ihnen nich’ helfen.«
»Er lässt dich erst in Ruhe, wenn du ihm alles erzählt hast.« Scuff deutete mit dem Daumen auf Monk. »Da kannst du’s genauso gut gleich hinter dich bringen. Es nützt auch keinem, wenn die Leute einen mit Polypen rumstehen und reden sehen. Man kann sich’s auch leichter machen.« Er zuckte schicksalsergeben die Schultern. »Bei mir is’ es ein bisschen zu spät, aber du kannst dich noch retten.«
Der andere Junge schaute ihn böse an.
Scuff ließ nicht locker. »Was hat Mr. Durban dich noch gefragt?« Er blickte zu Monk hinüber, dann schaute er wieder auf den Jungen. »Den will keiner zum Feind haben, glaub’s mir. Aber wenn du noch was rausrückst, wird er so tun, als ob er noch nie von dir gehört hätte.«
Der Junge wusste, wann es besser war, aufzugeben. »Er hat nach’ner Frau mit dem Namen Mary Webster, Walker … Webber oder so ähnlich gefragt. Wie’n Hund mit’nem Knochen, so war er. Wo sie is’. Ob ich sie gesehen hab. Ob jemand irgendwas über sie gesagt hat, ihren Namen vielleicht. Ich hab ihm gesagt, dass ich nie von ihr gehört hab, aber er hat einfach nich’ lockergelassen. Dann hab ich ihm versprochen, dass ich
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