Galgenfrist für einen Mörder: Roman
seinen Zorn mit größter Mühe und nur deshalb, weil er darauf angewiesen war, neue Indizien zu sammeln, die sich gegen Phillips verwenden ließen. »Die meisten Toten, die in diesem Flussabschnitt aus dem Wasser gefischt werden, kommen bei Ihnen auf die Bahre«, sagte er mit gepresster Stimme. »Figgis kann nicht der Einzige in diesem Alter und mit solchen Verletzungen gewesen sein. Ich würde gern etwas über die anderen erfahren.«
»Das möchten Sie bestimmt nicht«, widersprach der Arzt. »Vor allem nicht in Gegenwart dieses Kerlchens hier.« Er deutete auf Scuff. »Wird Ihnen sowieso nichts nützen. Oder glauben Sie, wir hätten uns nicht zerrissen, um eine der Leichen Jericho Phillips anzuhängen, wenn das möglich gewesen wäre?« In sein Gesicht hatten sich tiefe Falten gegraben, Ausdruck eines inneren Kummers, von dem ihm vielleicht gar nicht bewusst war, dass er sich nur allzu deutlich in seiner Miene spiegelte.
Monks Zorn legte sich. Plötzlich hatten sie alles, worauf es ankam, gemeinsam. Die Bemerkung, dass der Arzt allem Anschein nach auch nicht klüger gewesen war als die anderen, erstarb ihm auf den Lippen.
»Ich will ihn schnappen, egal wofür«, sagte Monk leise. »Von mir aus auch wegen vorsätzlichen Herumlungerns oder Erregung öffentlichen Ärgernisses, Hauptsache, wir können ihn lange genug einsperren, um noch mehr Belastungsmaterial zu finden.«
»Ich will ihn wegen der Dinge hängen sehen, die er diesen Kindern antut«, presste der Arzt mit leicht zitternder Stimme zwischen schmalen Lippen hervor.
»Ich doch genauso, aber ich gebe mich mit allem zufrieden, was ich kriegen kann«, erwiderte Monk.
Der Arzt musterte ihn mit harten Augen. Ganz langsam verschwand die Abneigung daraus, und er entspannte sich.
Scuff hörte auf herumzuzappeln.
»Ich hatte ein paar Jungen auf meinem Tisch, von denen ich annehme, dass sie ihm gehört haben«, sagte der Arzt. »Und wenn ich das beweisen könnte, würde ich nicht eine Sekunde zögern. Bei einem hat er es sogar zugegeben. Die Polizei hatte ihn aufgefordert, den Jungen zu identifizieren, und er kam hereinstolziert. Warf sich in Pose wie der Bürgermeister höchstpersönlich und bestätigte, dass er den Jungen kannte. Sagte, er hätte ihn bei sich aufgenommen, aber dann wäre er weggelaufen. Er wusste genau, dass ich ihm nichts beweisen konnte. Ich hätte ihn mit dem größten Vergnügen bei lebendigem Leib seziert, und auch das wusste er! Er genoss es unendlich, mich anzuschauen und sich an meiner Ohnmacht zu weiden.« Seine Züge verzerrten sich. »Aber Sie hätte ich umbringen können, als das Urteil verkündet wurde. Verdammt noch mal, Sie hatten ihn doch praktisch schon! Aber mit welchem Recht greife ich Sie an? Ich habe ihn ja auch nicht geschnappt.«
»Wie sicher sind Sie, dass er so etwas schon öfter getan hat? Ich meine: wirklich sicher und nicht bloß aus einem Gefühl heraus?«
»Absolut sicher, aber ich kann nichts beweisen. Wenn Sie ihn fassen, stehe ich mein Leben lang in Ihrer Schuld, und die werde ich auch abbezahlen. Mir ist völlig egal, ob er an einem Strick baumelt oder von seinen Rivalen erstochen wird, Hauptsache, Sie schaffen ihn von unserem Fluss fort.« Einen Moment lang standen seine Worte als Bitte im Raum, deren Dringlichkeit durch nichts verhüllt wurde. Dann krempelte er seine Ärmel noch höher und wandte sich ab. »Das Einzige, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass er es liebt, sie mit glühenden Zigarren zu foltern, aber das ist Ihnen wahrscheinlich schon bekannt. Und zum Schluss erledigt er sie mit einem Messer.« Er verharrte, den Rücken ihnen zugewandt. Sein Körper war wie erstarrt. »Und jetzt verschwinden Sie endlich und tun Sie etwas Nützliches, verdammt noch mal!« Damit stakste er davon und ließ sie allein in dem feuchten Raum zurück, wo es nach Karbol und Tod roch.
Draußen im Freien sog Monk tief die Luft ein. Scuff sagte kein Wort; sein Blick wich dem von Monk aus. Offenbar hatte er zu guter Letzt doch noch Angst bekommen und war sich nun auch anderer Gefahren bewusst als seiner alltäglichen, nämlich einer ungleich größeren Bedrohung, die so mächtig und dunkel war, dass sie alle zur Schau gestellte Tapferkeit im Keim erstickte. Seine Furcht war außer Kontrolle geraten, und er wollte nicht, dass Monk das sah.
Seite an Seite wanderten sie am Ufer des Flusses weiter, jeder in seinen eigenen Gedanken an den Tod und seine unmittelbare Nähe verloren. So achteten sie kaum noch auf die Wellen,
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