Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
völlig abgeschieden auf der in medizinischer Hinsicht revolutionären Krankenstation von Professor Archie McIndoe verbracht, der auf Verbrennungen spezialisiert war. Hugh hatte 19 Operationen an Gesicht und Händen hinter sich und sah noch immer so aus, als hätte ihn eine einhändige Schneiderin zusammengeflickt. Er wolle damit McIndoes mittlerweile legendäre Fähigkeiten nicht schlechtreden, sondern mir nur klarmachen, wie es anfangs für ihn gewesen sei, versicherte er mir.
Hugh wollte ursprünglich in Kilmarnock aussteigen, doch nach einem Blick auf den vertrauten rauchgeschwärzten Sandstein des Bahnhofs beschloss er spontan, noch 20 Minuten bis nach Glasgow weiterzufahren. Niemand wartete in Kilmarnock auf ihn. Sein Vater war tot und seine Mutter hatte ihre Besuche in East Grinstead bereits vor Monaten eingestellt. All diese armen Jungs mit den entstellten Gesichtern verkrafte ich einfach nicht mehr, begründete sie ihr Fernbleiben. Schon in den Wochen davor entging Hugh nicht, dass sie ein bisschen wunderlich wurde. Seine fünf älteren Geschwister hatten sich wegen der Suche nach Arbeit oder Ehemännern in alle Himmelsrichtungen zerstreut.
Vom Bahnhof St. Enoch aus wandte er sich nach Süden und überquerte die Jamaica Bridge, die sich über den Clyde spannt. Hugh kannte sich in Glasgow zwar nicht gut aus, wusste aber, dass die Gorbals eine Gegend waren, in der man gut untertauchen konnte. Unter den vielen anderen vom Leben gezeichneten Menschen, die in den vierstöckigen Mietshäusern hausten, würde er nicht allzu sehr auffallen, so seine Hoffnung. Seiner Erfahrung nach verhielten sich Menschen, die selbst ganz unten angekommen waren, anderen gegenüber am nachsichtigsten und akzeptierten sie und ihre Eigenarten am schnellsten.
Er fand ein Quartier in der Florence Street, eine einfache Einraumwohnung neben der Stube und Küche einer fünfköpfigen Familie. Sie bestand aus einer Witwe und vier Kindern, deren Ernährer bei einem Unfall auf der Werft ums Leben gekommen war. Die beiden »Haushalte« teilten sich eine Toilette, die sich draußen auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock des Sandsteinbaus befand.
Hugh registrierte sich als Erstes bei der örtlichen Postfiliale und eröffnete dort ein Konto, um sich seine Invalidenrente von der Armee darauf überweisen zu lassen. Am zweiten Tag stieß er zufällig auf Doyle’s Pub, und da dieser in der Nachbarschaft lag und man in den Nischen seine Ruhe hatte, wurde es schnell zu seinem Stammlokal. Manchmal kehrte er dort nicht nur abends, sondern auch mittags ein. Er wollte zunächst einmal für sich bleiben, niemandem zur Last fallen, abwarten, wie sich die Dinge entwickelten, und sich eventuell einen kleinen Job besorgen. Dieser kleine Job, der ihm irgendwann angeboten wurde, entpuppte sich als Quelle all seiner künftigen Probleme.
Hugh schaffte es, die Blicke zu ignorieren. Er schaffte es auch, sich in abgelegene Ecken zurückzuziehen. Vielleicht hätte er sich auch damit zufriedengegeben, sich wie ein Gespenst durch die Tage treiben zu lassen. Aber die körperlichen Schmerzen ließen sich oft kaum aushalten. Die Wunden verheilten mehr schlecht als recht und hinterließen ein buntes Farbmuster auf seinem Körper. Schließlich erwachten die Nervenenden zu neuem Leben und machten ihm unsäglich zu schaffen. Sein Nervensystem war von den gierigen Flammen verschont geblieben. Kein wirklicher Vorteil, denn nun übermittelte es ständig die Botschaft an sein Gehirn, der entsetzlichen Hitze auszuweichen. Überschwemmte sein Gesicht und die Gliedmaßen wieder und wieder mit Wellen unsichtbaren Feuers.
Das war zu erwarten gewesen, deshalb hatte McIndoe ihm einen Brief an die Universitätsklinik, die Glasgow Royal Infirmary, mitgegeben, um sicherzustellen, dass Donovan regelmäßig schmerzstillende Mittel erhielt. Doch die Mühlen der Bürokratie mahlten langsam. Die staatliche Gesundheitsversorgung existierte seinerzeit nur auf dem Papier, das heißt, sie beschränkte sich auf Zeitungsartikel, in denen die künftigen segensreichen Auswirkungen der Beveridge Proposals angekündigt wurden. Gemeint waren die Vorschläge zur sozialstaatlichen Gesundheitsreform in Großbritannien, die ein Ausschuss unter Leitung des Wirtschaftswissenschaftlers William Beveridge ausgearbeitet hatte.
Demnach würde Hugh in zwei Jahren alle nötigen Medikamente kostenlos erhalten, sobald sich das Gesundheitssystem etabliert hatte. Doch noch war es nicht so weit, und Hugh kannte
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