Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
nach dem geschriebenen Wort gierten. Zugleich verwandelte dieser Wissensdurst unsere Nation von einem Volk der Bauern und Fischer nach und nach in eine Industriemacht, welche dazu beitrug, die Welt zu formen. Jedenfalls bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise.
Die Bibliothek, die ich außerhalb der Universität am besten kannte, befand sich in Townhead – für mich bedeutete das einen halbstündigen Morgenspaziergang durch die Innenstadt bei strahlend blauem Himmel.
Als ich mich dem schönen roten Sandsteinbau näherte, war mein Körper angenehm warm und die von der Auseinandersetzung im Pub steifen Muskeln entspannt. Mit liebevollen Gefühlen musterte ich das Gebäude. Offenbar hatte es im Krieg keine Schäden durch Bombardierung davongetragen. Die beiden Statuen neben dem Eingang standen immer noch stolz in ihren in die Zinnen eingelassenen Häuschen. Als ich in das solide geschreinerte Innere trat und zu dem auf Hochglanz polierten Empfangstresen hinüberging, kam es für mich der Heimkehr in eine lieb gewonnene Umgebung gleich.
Ich erzählte dem Bibliothekar, ich müsse für ein Buch über den Donovan-Prozess recherchieren und benötigte deshalb Zugang zu sämtlichen in dieser Zeit erschienenen Publikationen. Ich bat ihn, mir auch die Sammelbände für die Monate davor und danach zugänglich zu machen, also einen Zeitraum von November 1945 bis zum heutigen Tag, dem 4. April 1946.
Er schielte mich über die Halbbrille hinweg an. »Wissen Sie überhaupt, wie viele Zeitungen wir jede Woche hereinbekommen, Sir?«
Ich schüttelte den Kopf.
»55. Wollen Sie die wirklich alle durchsehen?«
»Beginnen wir doch mit dem Glasgow Herald und dem Scotsman. « (Wegen der Fakten.) »Und mit dem Daily Record und der Glasgow Gazette .« (Wegen der Klatschspalten.)
Ich suchte mir einen Platz im Leseraum mit der hohen, gewölbten Decke. Durch die Dachfenster strömte Sonnenlicht herein, das meinen Holztisch in gleißende Helligkeit tauchte. Das löste erneut nostalgische Empfindungen bei mir aus, Sehnsucht nach der Studienzeit, vor diesem verdammten Krieg, vor diesem ... Albtraum. Damals hatte ein Stapel deutscher oder französischer Literatur vor mir gelegen. Alles Mögliche – von Victor Hugo bis zu Rudolf Christoph Eucken, dem Literaturnobelpreisträger 1908, von Alexandre Dumas bis Franz Kafka. Keine Zeitungen mit hysterischen Berichten über Kindesmissbrauch und Mord.
Ich hätte mich doch für das Lehramt entscheiden sollen, wie es mir mein Schulrektor und die Universitätstutoren damals nahelegten. Mir war sogar ein Lehrauftrag an der Universität angeboten worden. Aber mein innerer Dämon sträubte sich damals gegen ein Leben, in dem ich mich weiterhin in Büchern vergrub. Während des Ersten Weltkriegs erlebte ich als Kind mit, wie mein Vater mit Medaillen, den Uniformstreifen eines Feldwebels und einem Dauerhusten heimkehrte. In den Mietskasernen unseres Viertels wohnten lauter Bergarbeiter und Bergarbeitersöhne, die dem Tod Tag für Tag ein Schnippchen schlugen. Meine Vorstellungen von dem, was einen Mann ausmachte, waren frühzeitig geprägt worden. Und das Konjugieren unregelmäßiger französischer Verben passte nicht zu meinem Bild von Männlichkeit. Ich war 21 Jahre alt, trug Robe und Kappe eines Universitätsabgängers und platzte förmlich vor Wissen, wollte mich unbedingt beweisen.
Zudem rekrutierte Percy Sillitoe damals Männer, die dazu beitragen sollten, auf Glasgows üblen Straßen zivilisiertes Verhalten durchzusetzen – ob die üblen Gestalten, die dort lebten, das nun wollten oder nicht. Außerdem gierte ich danach, mich ein paar Jahre lang in der echten Welt auszuprobieren. Danach konnte ich mich ja immer noch der süßen Umarmung der Wissenschaft hingeben und geistigen Auseinandersetzungen und der Syntaxanalyse widmen. Allerdings wurde ich vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht den Hauch einer Ahnung, welche Prüfungen in meinem Leben noch auf mich zukommen würden.
Ein Rollwagen riss mich jäh aus meinen Erinnerungen: Ein Hilfsbibliothekar machte sich gerade daran, dicke, schwere Sammelbände auf meinem Tisch abzuladen. Ich legte alle vier nebeneinander, denn ich wollte die täglichen Ausgaben querlesen, um sie untereinander zu vergleichen und Abweichungen in der Berichterstattung aufzuspüren. Also schlug ich jeden Band bei Donnerstag, dem 1. November 1945 auf und vertiefte mich in die Meldungen.
15
Anfangs stieß ich nahezu ausschließlich
Weitere Kostenlose Bücher