Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
auf Artikel, die sich auf typische Nachkriegsprobleme bezogen, etwa auf die Fälschung von Lebensmittelkarten oder Soldaten, die immer noch von Fronten in aller Welt heimkehrten. Danach dominierte für ein paar Tage ein vermisster Junge aus Gallowgate und die groß angelegte Suche nach ihm die Schlagzeilen, aber nichts deutete auf die späteren Gräueltaten hin. Die Glasgow Gazette stellte dabei als einziges Blatt die Querverbindung zu den drei bereits früher als vermisst gemeldeten Jungen in Bridgeton und Hutchesontown her, behandelte das Thema aber nur auf einer der hinteren Seiten. Ich fragte mich, ob meine journalistischen Kollegen unterstellten, dass sich mit Berichten über verschwundene Kinder aus den Slums kein Hund hinter dem Ofen hervorlocken ließ, weil familiäre Katastrophen dort ständig vorkamen und kaum einen Nachrichtenwert besaßen.
Doch Mitte November wurde über Rorys Verschwinden berichtet, und das griffen plötzlich auch andere Zeitungen auf. Allerdings hatten erst fünf Kinder verschwinden müssen, bis die Presse ein bestimmtes Muster in den Vorfällen erkannte. Schwer zu sagen, was eher da war: die Spekulationen der Presse oder die Hysterie des Mobs, die wegen des Klatsches und Tratsches in den Gassen des East End zunehmend wuchs.
Als die Polizei Rory fand und die Einzelheiten über seinen misshandelten, nackten Leichnam an die Öffentlichkeit durchdrangen, brach eine wahre mediale Hölle los. Mit großen Schlagzeilen prangten die entsprechenden Berichte jeweils als Aufmacher auf den Titelseiten. Die Polizei, die wegen ihrer Ermittlungsmethoden unter Beschuss geriet, reagierte mit abgedroschenen Phrasen, die niemanden über ihre Hilflosigkeit hinwegtäuschen konnten.
Als Hugh Donovan verhaftet wurde, war das für die Presse natürlich ein gefundenes Fressen. Jetzt wollten die Journalisten Blut sehen, und die Polizei sonnte sich in ihrem Erfolg.
Mit Prozessbeginn hielt ein eher moderater Tonfall Einzug in die Meldungen. Der Presse blieb keine andere Wahl, denn Schottlands Justiz wachte mit Eifer darüber, dass ein faires Verfahren eingehalten wurde. Mit haltlosen Spekulationen, die den Ausgang des Verfahrens womöglich beeinflussten, hätten die Zeitungen sofort den Zorn der Justiz auf sich gezogen. Allerdings hielt das gewiefte Redakteure nicht davon ab, mit Andeutungen und Kommentaren – denen zur rechtlichen Absicherung jeweils das Wort »mutmaßlich« vorangestellt wurde – zusätzliches Öl ins Feuer zu gießen. Und selbstverständlich stand es der schreibenden Zunft frei, Tag für Tag über den Prozessverlauf zu berichten.
Mein Schädel brummte und mir taten die Augen weh, als ich mich mittags im Teeladen in der Sauchiehall Street zu einem Imbiss niederließ. Ich schlürfte die heiße braune Brühe und kaute auf einem Käsesandwich herum, während meine Notizen griffbereit neben mir lagen. Insgesamt vier Seiten hatte ich aus den Presseberichten von sechs Monaten herausdestilliert. Manche Artikel bemühten sich mustergültig um Objektivität, andere gaben in schriller Prosa lediglich die Ansichten des lynchgierigen Mobs wieder.
Eines ließ sich nicht von der Hand weisen: Die Entführung von Rory traf einen empfindlichen Nerv in Glasgow – die panische Angst vor einem Monster, das sich Kinder schnappte. Rorys Verschwinden war der Funke, der das Pulverfass zur Explosion brachte. Fiona Hutchinson verwandelte ihre verzweifelte Suche in einen Feldzug, der auch von den etablierteren Blättern dankbar aufgegriffen wurde. Der unverhohlene Druck der Presse auf die Polizei, die vermissten Jungen endlich zu finden, entfachte zusätzliche Unruhe in jedem Haushalt der Stadt. Familien mit kleinen Kindern fragten sich, ob das Monster demnächst auch bei ihnen zuschlagen würde. Am Tag nach Rorys Verschwinden veröffentlichten die Zeitungen lediglich eine kurze Meldung, zehn Tage später wurde daraus die bestimmende Schlagzeile auf Seite eins.
Ich hatte gehofft, irgendwo auf ein Foto von Fiona zu stoßen, aber vielleicht hatte die Justiz die Medien davor gewarnt, mit einer Abbildung der verzweifelten Mutter Einfluss auf den Prozessverlauf zu nehmen und Vorurteile zu schüren. Falls Fiona immer noch so gut aussah wie früher, hätte ihr tränenüberströmtes Gesicht den Verkauf sicher enorm gesteigert.
Innerhalb einer Woche löste Kriminalhauptkommissar George Muncie höchstpersönlich den unbeholfenen Polizisten ab, der bisher als Sprecher für den Fall fungiert hatte. Muncie war noch nie
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