Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
Norden, bis ich Cowcaddens erreichte. Von dort aus chauffierte mich eine weitere Straßenbahn entlang der Great Western Road bis nach Hillhead und zu Samantha Campbells Kanzlei.
Während der Fahrt blieb ich rauchend auf dem Oberdeck sitzen und nahm die Stadt in mich auf. Die prächtigen Fassaden der roten Sandsteingebäude hatten unter den Ausdünstungen der Schwerindustrie stark gelitten. Glas gow bedeutete Grüne Flur. Doch allzu viele Grünflächen fand man nicht mehr in der Stadt. Stattdessen strahlte sie jetzt etwas Dauerhaftes, Zuverlässiges aus. Im 19. Jahrhundert hatten die Stadtväter genau gewusst, worauf sie es anlegten und wie sie es erreichen konnten. Glasgow hatte sich schließlich mit dem Beinamen »Zweite Stadt des Empire« schmücken können.
Das Problem war, dass vom Empire nicht mehr schrecklich viel übrig geblieben war. Mittlerweile sprach man sogar darüber, Indien in die Unabhängigkeit zu entlassen, was lange undenkbar schien. Auf den Pennys, die ich dem Schaffner gerade gereicht hatte, stand immer noch Ind Imp. Und Tausende junger britischer Soldaten hatten dafür gekämpft und ihr Leben gegeben, die Japaner aus Südostasien hinauszuwerfen. Königin Vickie hätte sich beim Gedanken an ein Ende des Empire entsetzt in ihrem Mausoleumssarg herumgedreht.
Wenigstens blieben uns die Schiffswerften. Deren Blütezeit würde sicher zurückkehren, wenn wir erst einmal den von den Bajuwaren bescherten Brummschädel abgeschüttelt hatten. Schließlich mussten wir sämtliche Tonnagen ersetzen, die im Atlantischen oder Pazifischen Ozean versunken waren oder auf dem Grunde der Barentssee lagen. Laut meiner Mutter wurde in den Gruben von Ayrshire schon wieder mit voller Kraft gearbeitet. Allein schon der Blick auf die dicken Dampfwolken an den Bahnhöfen verriet mir, dass bei uns im Grunde alles in bester Ordnung war. Wir brauchten lediglich etwas Kapital, um die Dinge wieder in Gang zu bringen. Genau hier lag der Hund begraben. Wir waren so pleite wie fahrende Kesselflicker.
18
Um kurz nach 18 Uhr traf ich in Samantha Campbells Kanzlei ein. Da der Empfang nicht mehr besetzt war, machte ich mich durch lautes Rufen bemerkbar.
»Kommen Sie rein, Brodie«, rief Sam zurück.
Als ich die Tür zu ihrem Büro öffnete, platzte ich in eine gemütliche Szene hinein: Die Anwältin trank zusammen mit Pater Cassidy Tee. Die beiden teilten sich sogar einen Teller mit Vollkornkeksen.
Einen albernen Moment lang ärgerte ich mich darüber – nein, war regelrecht eifersüchtig –, wie vertraut Patrick Cassidy mit Samantha umging. Ich sollte mich schämen. Schließlich hatte der Mann Hugh bei dieser ganzen traurigen Geschichte beigestanden. Ich beschloss, ihn zu mögen und seine Vorzüge nicht länger aufgrund meiner Vorurteile über Geistliche mit Missionierungseifer zu ignorieren. Immerhin verdankte ich ihm die Namen der Pubs, in denen Hughs Drogendealer verkehrten. Kurz gesagt: Er war nützlich.
Sam ließ den Blick auf den Tee und das Gebäck wandern. »Wir haben noch eine dritte Tasse, und der Tee in der Kanne ist noch warm. Was Stärkeres hab ich leider nicht da«, setzte sie mit leichter Spitze gegen mich nach.
»Sie schätzen die Trinkgewohnheiten von Zeitungsmenschen allzu negativ ein, Miss Campbell. Tee ist genau das, was ich jetzt brauche.«
»Sie können sich entweder einen Stuhl aus dem Vorzimmer holen oder ...« Sie zeigte auf einen der Papierstapel.
Ich goss mir eine Tasse ein und hockte mich vorsichtig auf einen der wackligen Aktenberge. »Wie gemütlich.«
»Pater Cassidy hat Hugh heute besucht. Er ist vorbeigekommen, um sich nach unseren Fortschritten zu erkundigen.«
Ich nickte ihm zu. »Schön, dass Sie bei ihm reingeschaut haben, Patrick. Wie geht es ihm?«
Der Priester stellte seine Tasse auf Sams Schreibtisch ab. »Er bekommt wieder die stärkere Medikation. Leider war er deshalb nicht ganz bei sich. Als ich den Gefängniswärter darauf ansprach, sagte er, Hugh habe große Schmerzen gehabt, es sei nur zu seinem Besten.« Er schüttelte den Kopf. »Mir gefällt das nicht. Hugh dämmert nur noch vor sich hin. Ein Mann sollte compos mentis, bei klarem Verstand sein, wenn ihm nur noch so wenig Zeit unter den Menschen bleibt.«
»Damit er seine Sünden bekennen kann?«
»Es ist doch gewiss besser, diese Welt mit reinem Gewissen zu verlassen, meinen Sie nicht?«
»Noch ist er ja nicht tot.« Ich trank einen Schluck Tee.
»Sind Sie auf irgendetwas Wichtiges gestoßen?«, erkundigte sich
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