Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
wenn ich Samantha Campbells Waffe mitnahm, würden wir anders als auf der Fähre einen Kampf auf Augenhöhe führen. Doch mal abgesehen von der persönlichen Genugtuung, diesen Schweinen die Köpfe einzuschlagen, würde ich wohl wenig davon haben – zumindest kein neues Beweismaterial, um Hugh für die bevorstehende Verhandlung zu entlasten.
»Können wir das vor Gericht verwenden?«, fragte ich später eine sichtlich konsternierte Sam.
»Dass Hugh der Vater ist, spricht weder für noch gegen seine Schuld. Na ja, wenn ich gewusst hätte, dass Rory sein Sohn ist, hätte ich es damals beim Prozess benutzen können. Doch jetzt ändert diese Tatsache im Grunde nichts mehr, selbst wenn die Richter Fionas Aussage als glaubwürdig einstufen.«
»Das würden die doch sicher, oder? Warum um alles in der Welt sollte sie sich so etwas aus den Fingern saugen?«
»Aber sie werden sich die Frage stellen, wieso sie erst jetzt damit ankommt.«
»Um den Vater ihres Sohns vor dem Galgen zu retten!«
»Das ist doch kein Beweis für Hughs Unschuld.«
»Reiten Sie doch nicht so auf dem rein juristischen Sachverhalt herum! Würden die Richter denn nicht annehmen, dass ein Vater so etwas unmöglich dem eigenen Sohn antut?«
Sam schüttelte resigniert den Kopf. »Sie müssen wirklich ein behütetes Leben geführt haben, Douglas Brodie, wenn Sie es für zu weit hergeholt halten, dass ein Vater sein eigenes Kind missbraucht. Ich habe schon Fälle erlebt ...«
Natürlich wusste ich das selbst. Als Polizist hörte man auf der Straße Gerüchte über gewisse Familien. Man versuchte, es als bloßes Gerede abzutun, obwohl in diesen viel zu engen, stinkenden Unterkünften, in denen häufig drei Generationen aufeinanderhockten, manchmal Dinge vor sich gingen, bei denen sich einem der Magen umdrehte.
Wenn die Ehefrau ständig schwanger und ihr Mann ein geiler Bock ist, der oft säuft, stellt eine attraktive Tochter allzu leicht eine Versuchung für ihn dar. Solche Familien lebten wie primitive Stämme, am äußersten Rand der Zivilisation, amoralisch und getrieben von tierischen Gelüsten. Aber das war ein Thema, mit dem sich niemand gerne auseinandersetzte. Die Menschen breiteten im Rahmen einer kollektiven Verschwörung den Schleier des Schweigens darüber aus, um nicht mit der Schande konfrontiert zu werden, die das über ihre schöne Stadt brachte.
Manchmal jedoch waren die Fälle so schlimm, dass sie tatsächlich vor Gericht landeten. Dort drang die Wahrheit dann aufgrund der verzweifelten Aussagen einer missbrauchten Tochter oder eines Sohns, der Höllenqualen durchlitten hatte, ans Tageslicht. Natürlich besitzen solche Geschichten eine uralte Tradition: Sie stehen schon in der Heiligen Schrift, etwa die von Lot und seinen Töchtern oder die von Abraham und seiner Schwester Sarah, die zugleich seine Frau war.
Aber vor Gericht spielte die Bibel keine Rolle, denn in den Augen der Kirche und des Gesetzes waren das keine vergleichbaren Präzedenzfälle. In der Regel wurden die meist alkoholabhängigen Vergewaltiger zu Zwangsarbeit verurteilt. Aber die Mithäftlinge, bei denen solche Täter verhasst waren, dachten sich weitaus härtere Strafen für sie aus. Selbst Kriminelle haben gewisse moralische Maßstäbe.
Ich überlegte, wie die Richter im Berufungsverfahren auf die Enthüllung reagieren mochten, dass es sich bei Hugh um Rorys Vater handelte. Wo schon Sam eine typische Vertreterin skeptischer Rechtswissenschaften war, ließen sie sich von Appellen ans Gefühl vermutlich noch weitaus weniger beeindrucken. Dazu hatten sie im Laufe der Jahre schon zu viel gesehen und gehört. Als Polizist wusste ich aus eigener Erfahrung, wie Richter solche Fälle handhabten. Ihre Sache war die Auslegung von Gesetzen, und das hat nicht zwangsläufig mit Gerechtigkeit zu tun. An die Gerechtigkeit der Justiz glaubten ohnehin nur Laien; ähnlich naiv wie Kinder, die nachts von der Zahnfee träumten.
Mich bestärkte das Gespräch mit Fiona darin, Hugh für unschuldig zu halten. Aber das mochte daran liegen, dass ich im Gegensatz zum Berufungsgericht schon so manche Nacht mit ihr im Speicher durchgetanzt hatte.
28
Ich sah zu, wie sich die Verteidigerin Samantha Campbell in sich selbst zurückzog, auf den Scotch verzichtete und derart intensiv auf das Berufungsverfahren vorbereitete, dass sich ihre Augen röteten und darunter tiefe dunkle Ringe abzeichneten. Zweimal begleitete ich sie zu Besuchen ins Barlinnie und saß neben ihr, während sie ihre
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