Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
möglich war. Sam griff nach ihrem Glas und nahm einen kräftigen Schluck. Dann rieb sie sich mit zitternder Hand über die Stirn und starrte mich an. Nach und nach beruhigte sie sich etwas.
»Am Montag ist es zu spät«, erklärte sie schließlich mit normaler Stimme. »Selbst wenn sie die Familie Reid tatsächlich nach Glasgow bringen. Da beginnt nämlich schon die Berufungsverhandlung.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber wenn die Reids wirklich auf Arran sind, werden Slatterys Leute kaum vor Sonntag zur Insel rüberfahren und sie abholen können. Und es war mir wichtig, dass die Übergabe öffentlich erfolgt, mit jeder Menge Menschen drumrum. Sie müssen es schaffen, den Beginn der Verhandlung hinauszuzögern, Sam. Wenn die Übergabe gleich am Montagvormittag erfolgt und Mrs. Reid zu einer Aussage bereit ist, können Sie dem Gericht am Dienstag eine faustdicke Überraschung präsentieren.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind wirklich völlig durchgeknallt, Brodie.« Sie nahm noch einen Schluck und musterte mich lange und eingehend. Dann rang sie sich ein Lächeln ab. »Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen. Allein schon, um zu sehen, wie der harte Dermot Slattery um Gnade winselt.« Doch gleich darauf verzog sich ihr Mund wieder zu einer schmalen Linie. »Trotzdem stecken wir in der Klemme.«
»Nicht wir, Sam. Sie betrifft das nicht. Die wissen ja nicht, dass ich hier wohne. Trotzdem sollte ich wohl besser ausziehen. Mir irgendwo anders einen Unterschlupf suchen.«
»Sie gehen nirgendwohin! Bleiben Sie hier. Lesen Sie ein paar Bücher.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich rechne eigentlich gar nicht damit, dass Slattery uns Mrs. Reid am Montag ausliefern wird, trotzdem muss ich diese Sache durchziehen. Deshalb halte ich die Verabredung auf jeden Fall ein. Man weiß ja nie ...«
Am Sonntag verschanzten wir uns im Haus, sammelten unsere Kräfte und spielten uns gegenseitig vor, konzentriert Zeitung zu lesen, obwohl wir mit den Gedanken natürlich ganz woanders waren. Später nahm Sam letzte Änderungen an ihrem Berufungsantrag vor, und ich hörte, wie sie in ihrer Bibliothek mehrmals ihr Plädoyer probte. Den Wortlaut konnte ich zwar nicht verstehen, aber die leidenschaftliche Vortragsweise gefiel mir. Irgendwann nahm ich mir ihre in Leder gebundenen Schinken vor und widmete mich einem Roman von Sir Walter Scott, denn der hatte mich schon immer gut ablenken können.
Am Montagmorgen verstaute Sam ihre Papiere in einer schäbigen alten Aktentasche und packte ihre Robe und die Lockenperücke in einen kleinen Koffer. Sie wirkte durch und durch wie ein Profi. Und ihre Professionalität würde sie auch brauchen. Um neun holte sie ein Wagen ab und brachte sie zum Gerichtsgebäude. Kurz darauf klappte ich Ivanhoe zu und trat in die warme Luft hinaus.
Um Viertel vor zehn lungerte ich in Blickweite der Townhead-Bibliothek an einer Straßenecke herum. Keine Spur von Slattery und seinen Leuten, erst recht nicht von Mrs. Reid. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen und beschloss, meinen Standort zu wechseln. Also ging ich an der Bibliothek vorbei und blieb an der Straße stehen, um nach irgendwelchen Wagen oder auffälligen Geschehnissen Ausschau zu halten. Um Viertel nach zehn gab ich auf und schlenderte zurück zum Gebäude der Bücherei.
Bis halb elf wartete ich, aber es tat sich nichts. Schließlich warf ich meinen Zigarettenstummel in die Gosse und wollte den Rückzug antreten – doch genau in diesem Moment hörte ich die Sirene eines Polizeiwagens. Er schoss an mir vorbei und hielt mit quietschenden Bremsen vor der Bibliothek. Vier Männer sprangen heraus, zwei davon in Uniform, zwei in Zivil. Die Zivilbeamten rannten sofort ins Gebäude, während sich die Uniformierten am Eingang postierten. Kurz darauf begannen Menschen aus dem Gebäude zu strömen. Sie wirkten schockiert, eine Frau weinte sogar. Mein Magen verkrampfte sich in böser Vorahnung. Ich ging zum Eingang zurück und wandte mich an einen der dort postierten Beamten, der auffällig jung war – gerade eben im rasierfähigen Alter.
»Darf ich fragen, was hier los ist?«
»Kann ich Ihnen nicht sagen, Sir. Jedenfalls dürfen Sie da nicht rein. Es gibt da ein kleines Problem.«
»Was für ein Problem? Feuer? Ein Unfall?«
»Kann ich Ihnen nicht sagen, Sir.«
»Hören Sie, ich bin ein Freund von Willie Silver. War vor dem Krieg selbst bei der Polizei. Im Revier Tobago Street.«
Er musterte mich gründlich, dann überzeugte er sich mit einem Blick
Weitere Kostenlose Bücher