Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
trug einen schlotternden Anzug und ein Hemd ohne Krawatte. Man hatte nichts dafür getan, ihn normal aussehen zu lassen. Jemand rief: »Da ist das Monster! Aufhängen!« Daraufhin mahnte der Gerichtsdiener alle Anwesenden zur Ruhe, und ein stämmiger Polizist ließ die Leute seine Wachsamkeit spüren, indem er zur Empore hinaufstieg und sich mit dem Schlagstock mehrmals auf die Handfläche klatschte.
Das Schauspiel währte nicht besonders lange. Einer der Richter lobte ausdrücklich die Argumentation der Verteidigerin gegen die Mordanklage, doch das diente lediglich dazu, den Schein zu wahren. Die drei Perückenträger kamen mir wie direkte Nachfahren des blutrünstigen Judge Jeffreys vor, der im 17. Jahrhundert so viele Menschen ins Jenseits befördert hatte.
Selbst bei einem Berufungsverfahren im Fall Jesus Christus hätten sie wohl eidesstattliche Zeugenaussagen und fotografische Beweise verlangt, die den mutmaßlichen Täter entlasteten, ehe sie auch nur einen Gedanken an die Aufhebung des Todesurteils verschwendeten. Das verrieten schon ihre Augen, die Hamsterbacken und die kultivierte Sprache. Vor ihnen stand eine armselige Kreatur, die mit kleinen Jungen entsetzliche Dinge angestellt hatte. Der Mann sah ja sogar aus wie eine Ausgeburt der Hölle! Dem war doch alles Mögliche zuzutrauen!
Selbstverständlich wurde pflichtschuldig und mit geheucheltem Mitgefühl erwähnt, Hugh Donovan habe heldenhaft für das nationale Wohl gekämpft, nur deshalb sei sein Gesicht so entstellt. Doch im selben Atemzug mutmaßten die Richter, die Verbrennungen hätten nicht nur sein Gesicht in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch perverse Neigungen vorangetrieben. Eine wirklich traurige Geschichte, aber man müsse die Gesellschaft nun einmal vor solchen Individuen schützen.
Niemand wunderte sich, dass der Vorsitzende des Trios – Ihre Lordschaft Oberrichter James Edgar Stewart – schließlich verkündete, die Berufung werde abgelehnt und das ursprünglich verkündete Urteil umgehend vollstreckt. »Umgehend vollstreckt« bedeutete, wie ich wusste, in vier Tagen, also am Dienstag der kommenden Woche.
Diesmal schafften es weder der Gerichtsdiener noch der Vorsitzende Richter, die Menge zum Schweigen zu bringen. Die Zuschauer sahen den Verurteilten bereits in der Hölle schmoren. Als Hugh, der den Kopf gesenkt hielt, hinausgeführt wurde, ließ Samantha Campbell den Blick nicht von ihm ab. Gleich darauf kam der Staatsanwalt zu ihr und murmelte irgendwelche Plattitüden. Sie lächelte ihm lediglich mit grimmiger Miene zu und setzte die Brille und ihre Perücke ab. Ihr blondes, mit Klemmen festgestecktes Haar war schweißnass. Sie zog die Klemmen heraus und fuhr sich durch die Haare, um sie zu lockern. Danach sammelte sie ihre Unterlagen ein, blieb aber noch so lange sitzen, bis sich der Saal geleert hatte. Dann stand sie auf und machte sich auf den Weg zur Tür, wobei ihre Schritte laut widerhallten. Als ich ihr von der Empore aus zuwinkte, bemerkte sie die Bewegung und sah mit einem so verzweifelten Blick zu mir hoch, dass ich am liebsten über die Brüstung gesprungen wäre, um sie in den Arm zu nehmen.
Wir trafen uns draußen. Ihre Augen hatten sich vom vielen Reiben gerötet.
»Ein Sieg der Gerechtigkeit, stimmt’s? Bringen Sie mich nach Hause, Brodie.«
Einen Tag vor Ende der Galgenfrist – in diesem Fall eine absolut treffende Bezeichnung – gingen wir Hugh besuchen. Er war gelassen, allzu gelassen. Eindeutig hatte die Gefängnisleitung veranlasst, ihn mit Morphium vollzupumpen, um sich, nicht unbedingt ihm, die Sache leichter zu machen.
Man konnte kaum von einem Gespräch mit Hugh reden, der wieder die fürchterliche Gefängniskleidung trug und wegen mutmaßlicher Fluchtgefahr an Hand- und Fußgelenken gefesselt war. Sam und ich stotterten irgendwelche Entschuldigungen dafür, dass wir ihn nicht freibekommen hatten. Doch Hugh winkte nur edelmütig ab. »Ihr habt euer Möglichstes getan, alle beide. Mehr konnte ich nicht verlangen! Aber es ist vorbei, all das spielt jetzt keine Rolle mehr, Dougie, alter Kumpel. Bin schon darüber hinweg. Ich hätte bereits damals im Bomber sterben sollen. Alles danach war nur geborgte Zeit.«
Der letzte Satz erschütterte mich, denn genau dasselbe Gefühl hatte ich anfangs in den Wellen vor Arran verspürt. Die unzähligen Geschosse und Bomben, die mich während der Feldzüge quer durch Afrika und Europa nur knapp verfehlten, hatten mich in der Gewissheit bestärkt, dass es mich
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