Galgentochter
verdienen», meinte Hella.
«O ja», erwiderte Helfried. «Erst kürzlich trafen wir eine, die war auf dem Weg zu ihrer Tochter. Sie hatten einander aus den Augen verloren. Nun wollte sie dort suchen, wo sie ihr Mädchen zum letzten Mal gesehen hatte.»
Hella schüttelte sich ein wenig. «Es muss furchtbar sein, ein Kind zu verlieren. Haben sie einander gefunden?»
Helfried zuckte mit den Achseln. «In Frankfurt trafen wir sie vor dem Stadttor. Sie lag in bitterer Kälte neben einem Weg, bedeckt nur von ein paar Blättern. Wir haben sie mitgenommen und ihr einen Schlafplatz in einem unserer Wagen angeboten. Am Feuer erzählte sie, dass es ihr sehr bald bessergehen werde. Ihre Tochter sei tatsächlich hier, wohne sogar in einem kleinen Häuschen. Gleich morgen würde sie zu ihr gehen und keinerlei Not und Kälte mehr kennen.»
Hella hatte mit angehaltenem Atem gelauscht. «Wie sah sie aus, die Wanderhure?», wollte sie wissen.
Helfried hob die Schultern, schloss für einen Augenblick die Lider. «Sie hatte kaum noch Zähne im Mund, nur ein paar schwarze Stummel. Ihr Haar war lang und dunkel, aber schon von grauen Strähnen durchzogen, die Kleidung verschlissen, das Mieder nachlässig geschlossen, sodass man einen Großteil ihrer Brüste sehen konnte. Mehr weiß ich nicht.»
«Hatte sie etwas Besonderes an sich? Irgendein Merkmal, welches dir aufgefallen ist?»
Helfried verzog ein wenig den Mund. «Ihr Lachen war laut und derb, und sie kannte wohl mehr Flüche als wir alle zusammen.»
«Hast du danach von ihr gehört? Ist sie bei ihrer Tochter untergekommen?»
Helfried schüttelte den Kopf. «Am nächsten Morgen ging sie weg. Gesehen haben wir sie nicht mehr. Aber wir hörten, dass eine Wanderhure tot aufgefunden worden ist. Es hieß, sie habe sich selbst gerichtet. Nun, eine Sünde, ohne Zweifel. Aber wenn die Tochter das Weib abgewiesen hat und sie auch im Hurenhaus kein Auskommen fand, was blieb ihr übrig?»
Hella nickte bestätigend zu Helfrieds Worten. «Ja, was blieb ihr übrig?» Sie bemerkte, dass Helfrieds Stimmung plötzlich schlechter geworden war. «Was hast du?»
Er sah hoch. «Könnt Ihr, Bürgersfrau, mir sagen, warum es welche unter den Menschen gibt, denen es schlechtergeht als den anderen, obwohl sie genauso viel oder gar noch mehr arbeiten und leisten?»
Hella schüttelte den Kopf. «Nein, Gaukler, das kann ich nicht. Bist du ein Philosoph?»
Helfried schüttelte den Kopf, lächelte bitter: «Ein Musikus bin ich. Und um gute Musik zu machen, muss manvieles zugleich sein: Erfinder, Seelsorger, Philosoph, Apotheker der Herzen.» Er breitete die Arme aus. «All das bin ich, all dies mühe ich mich zu sein. Und doch haben wir an manchen Wintertagen nicht einmal Holz für das Feuer. Wir hungern, wir frieren zuzeiten, aber die Menschen in den Städten und Dörfern wollen uns fröhlich haben. Für sie sind wir Hanswurste. Was wir aber für uns sind und sein wollen, interessiert keinen.»
«Helfried hat recht», mischte sich nun Tom in das Gespräch. «Die Menschen sehen in uns diebische Nichtsnutze, die den Tag über herumlungern und am Abend für die Kurzweil, die sie selbst haben, noch Geld verlangen. Aber so ist es nicht.» Tom beugte sich zu Hella hinüber, nicht ohne Gustelies vorher noch einen tiefen Blick zuzuwerfen. «Helfried ist ein wahrer Künstler. Er komponiert und dichtet selbst Lieder, schreibt sogar die Noten dazu. Und …!» An dieser Stelle hob Tom den Finger und fügte hinzu: «Er tut dies obendrein in verschiedenen Sprachen! Er spielt dann die Laute, und ich singe dazu.»
Gustelies schob Tom und Helfried noch schnell ein Stück Kuchen zu: «Sing mir ein Lied», bat sie Tom. «Sing mir eins von Helfrieds Liedern.»
Die beiden Männer wechselten einen kurzen Blick, dann standen sie auf, stellten sich hinter Hella und Gustelies und begannen zu singen.
«Wie schön», flüsterte Hella, als das Lied zu Ende war und Helfried sich vor ihr verbeugte. Sie wollte Geld aus ihrer Börse nehmen, doch Helfried hielt ihre Hand fest. «Ich habe aus Freude für Euch gesungen», sagte er leise und trank einen Becher Wein in einem Zug aus.
Die Geldwechslerin, die andere Bekannte begrüßt hatte, war nun auch an den Tisch zurückgekehrt. «Freunde, wiesieht es aus? Sind die Weinkrüge leer? He, Herr Wirt, bringt neuen Wein. Wir sind doch nicht zum Vergnügen hier.» Sie lachte keckernd, hob ihre Röcke und setzte sich neben Hella. «Unterhaltet ihr euch gut?», fragte sie, warf dabei
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