Galgentochter
einen Blick auf Gustelies, die innerhalb der letzten Stunde um fünf Jahre jünger geworden zu sein schien.
Hella lächelte. «Ja, alles ist gut.»
Dann stützte sie die Unterarme auf den rohen Holztisch und fragte Helfried: «Bist du auch einem Gewandschneider begegnet?»
Helfried zuckte mit den Achseln. «Manchmal kommen die Städter hinaus in die Vorstadt zu unserem Lager. Sie lassen sich aus der Hand lesen, manche fragen nach Liebestränken. Ob ein Gewandschneider darunter war, weiß ich nicht. Ich habe mit Wahrsagerei und Liebe wenig zu tun.»
Schade, ging es Hella durch den Kopf, und sie wusste selbst nicht genau, ob sie damit die Nachrichten über den Gewandschneider oder Helfrieds Verhältnis zur Liebe meinte.
«Erinnerst du dich an einen lutherischen Pfarrer? Hast du ihn bei euch gesehen?»
Wieder schüttelte Helfried den Kopf. «Ich weiß es nicht. Fragt Tom oder die Frauen, die zu uns gehören.»
Dann schwieg Helfried, sah Hella an, sah durch sie hindurch, stand plötzlich auf, nahm die Laute über die Schulter und ging davon.
Hella sah ihm verblüfft hinterher.
«Denkt Euch nichts dabei», erklärte Tom. «So ist er immer, wenn ihm ein neues Lied eingefallen ist. Er geht jetzt, um es sich sogleich aufzuschreiben. Ein Papiermüller, dem wir zum Geburtstag aufgespielt haben, hat ihm dafür Papierabfälle geschenkt.»
«Aha», erwiderte Hella und rückte etwas näher an Gustelies heran, der das offenbar gar nicht recht war. Sie stieß ihre Mutter in die Seite, dann wandte sie sich an Tom. «Ist ein Gewandschneider bei euch gewesen?», fragte sie frei drauflos.
«Ein Gewandschneider? Warum wollt Ihr das wissen?», fragte Tom zurück, und seine braunen Augen verengten sich.
Hella winkte ab. «Ach, nur so. Aus einer Laune heraus. Ich habe ein Kleid bei ihm bestellt. Vielleicht hat die Wahrsagerin ihm gesagt, ob es gelingt.»
Tom lachte, aber das Lachen klang nicht echt. «Weiber!», sagte er und strich dabei ganz sanft und flüchtig über Gustelies’ Hand, die über und über rot wurde. «Als ob es nichts Wichtigeres als Kleider gäbe!»
Nun lachte auch Hella, studierte dabei aufmerksam sein Gesicht, sah die Veränderungen. Der Mund wurde ein wenig schmaler, die Haut um die Nase fahler, das Kinn kantiger.
Sie wollte gerade nach dem Pfarrer fragen, aber eine Stimme sagte ihr, dass jetzt nicht der richtige Augenblick dafür war. Also erhob sie sich, grüßte, packte auch die Geldwechslerin am Arm und setzte sich zu Pater Nau und ihrem Mann. Jutta nahm neben ihr Platz.
«Ist Euch etwas aufgefallen?», fragte Hella leise die Geldwechslerin.
«Und ob! Während der Musikus wirklich vom Leben nichts mitbekommt, wusste der Lautenspieler recht genau, wen wir meinten.»
«Glaubt Ihr, die Gaukler haben etwas mit den Morden zu tun?», fragte Hella.
Jutta Hinterer hob die Achseln: «Ich traue Männernja von Natur aus jede Schandtat zu, aber ich frage mich, warum sie die Hure, den Gewandschneider und den Lutherischen hätten töten sollen.»
«Auch mir fällt kein Grund ein. Geld hatten ganz sicher weder die Hure noch der Lutherische. Und der Gewandschneider hatte mehr Schulden als Haare auf dem Kopf.»
Jutta sah noch einmal zu Tom, der Gustelies jetzt Geschichten erzählte, über die sie laut und mit zurückgeworfenem Kopf lachte.
«Seht Euch meine Mutter an», meinte Hella mit einer Mischung aus Belustigung und Ängstlichkeit. «Mir scheint, sie ist gerade dabei, sich zu verlieben.»
Die Geldwechslerin winkte ab. «Oh, das tut sie öfter. Warum auch nicht? So furchtbar viel Freude wird sie mit dem Griesgram von Pater Nau nicht haben.» Sie senkte die Stimme. «Oh, die Welt ist ein Jammertal und das Leben ein Graus», äffte sie ihn nach. Dann hob sie die Schultern. «Was willst du? Sie ist Witwe und noch keine alte Frau. Eine Sünde ist es nicht, was sie tut.»
«Stimmt. Und vielleicht gelingt es ihr trotz der rosa Wölkchen, die ihr aus den Augen quellen, diesen Tom noch etwas auszufragen», sagte Hella, aber in ihrem Inneren sah es ganz anders aus. Morgen, dachte sie, morgen werde ich sie zur Rede stellen. Es ziemt sich einfach nicht für eine Frau in ihrem Alter, sich noch einmal zu verlieben.
«Und? Was habt ihr in Erfahrung gebracht?», fragte Heinz Blettner, als er neben Hella im Bett lag. «Falls ihr überhaupt etwas in Erfahrung gebracht habt bei eurer Tändelei.» Seine Stimme klang nach unterdrücktem Ärger.
Hella lächelte, doch die Dunkelheit verbarg ihre Amüsiertheit. «Bist du
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