Galgentochter
müsst Eure Sachen nicht auf dem Galgenberg verteilen», versuchte der Medicus zu scherzen. «Das Osterfest ist vorbei.»
Hella warf ihm einen vernichtenden Blick zu, unter dem er errötete. «Nichts für ungut, Blettnerin.»
«Was in aller Welt tust du hier?», fragte der Richter noch einmal, und Hella hörte ihm an der Stimme an, dass er kurz davor war, aus der Haut zu fahren.
Ein Bild drängte sich plötzlich in ihre Gedanken. Sie schloss die Augen, hob einen Finger und gebot den Männern Schweigen. Dann öffnete sie die Augen und erklärte: «Der Mörder oder die Mörderin ist nicht durch das Stadttor gekommen, sondern über den Main. Deshalb haben die Wächter niemals jemand Verdächtiges gesehen. Der Mörder oder die Mörderin hat die Leiche am Hafen getötet. Dort gibt es Uferwiesen mit Gebüsch, in denen die Hübschlerinnen ihre Schäferstündchen abhalten. Mag sein, dass sich in den Hafenscheuern auch Heu oder Stroh findet. In der Nacht, nach der Sperrstunde, hat der Mörder oder die Mörderin ein Fischerboot genommen, die Leiche hineingepackt und ist bis hierher gerudert. Dann hat er oder sie die Leiche auf eine einrädrige Karre gelegt und vom Fluss bis hier hochgezogen. Er oder sie hat die Leiche unter dem Galgen hingelegt, den toten Hund an den Galgen gehängt und ist denselben Weg wieder zurück. Die Karre hat er oder sie wahrscheinlich auch mit in den Kahn geladen.»
Die Männer schwiegen stumm und starrten sie mit großen Augen an. Dem Stadtmedicus war die Kinnlade heruntergeklappt, der Leichenbeschauer betrachtete Hella wohlgefällig, der Henker mit Überraschung, der Richter mit einer Mischung aus Missbilligung und Stolz.
«Hast du Taschentuch und Kamm dorthin gelegt, weil dort noch Spuren zu sehen sind?», fragte er in einem bemüht geschäftstüchtigen Ton.
Hella nickte. «Gleich hinter der Mauer sah ich einen halben Fußabdruck. Dort, wo mein Kamm liegt, meinte ich Schleifspuren zu erkennen.»
Der Richter lief los, die anderen wollten hinterher.
«Bleibt stehen», rief Hella und stellte sich dem Henker, dem Medicus und dem Leichenbeschauer in den Weg. «Bleibt stehen, Ihr zertrampelt sonst die Spuren.»
Der Medicus knurrte unwillig, der Scharfrichter aber sagte rau: «Recht hat das Weib.» Dann stellte er sich mit gespreizten Beinen, die Arme vor der Brust verschränkt, neben den Galgen.
Inzwischen fragte Hella: «Wer hat die Leiche gefunden?»
Der Medicus meldete sich: «Ich war das. Ein Tagelöhner ist sich mit der Sense ins Bein gefahren. Ich war auf dem Weg zu ihm.»
Der Richter hatte die Gespräche gehört. Nun war er es, der auf dem Boden kauerte. «Medicus», rief er. «Ich brauche Euch nun nicht mehr. Geht Euch um den Tagelöhner kümmern und schreibt mir alsbald ein Protokoll.»
Der Medicus war hin und her gerissen. Hella sah seinem Gesicht an, dass er liebend gern hier noch ein wenig Maulaffen feilgehalten hätte. «Kümmert Euch der Kranke denn gar nicht?», fuhr sie ihn an. Da zuckte der Arzt zusammen,grüßte und suchte das Weite. Hella sah ihm kopfschüttelnd nach. Dann wandte sie sich um. «Wer ist der Tote? Weiß man das? Woran ist er gestorben? Hängt wieder ein Hund?»
«Ein Patrizier ist es. Der älteste Sohn vom Ratsherrn Eibisch.»
Hella schlug sich die Hand vor den Mund: «Ein Patrizier? Der Sohn vom Kaufherrn Eibisch?»
Der Leichenbeschauer nickte. «Das wird nicht leicht werden für den Euren. Der ganze Rat wird ihn unter Druck setzen. Wie gut, dass Ihr die Spuren gefunden habt.»
«Und … Und hängt wieder ein Hund?»
«Alles wie gehabt. Der Kopf direkt am Balken, der Körper mit gespreizten Armen und Beinen, sodass der Galgenschatten wie ein Kreuz auf ihn fallen kann.»
«Die Todesursache?»
«Der Mann hat geweitete Pupillen. Diese kommen wahrscheinlich von einer Rauschdroge, doch an dieser ist er nicht gestorben, sonst wäre sein Körper verkrampft. Dafür sind wieder Erstickungsspuren um Mund und Nase zu finden.»
«Und er hat nicht gemerkt, dass er erstickt wurde, weil er im Rausch war, und hat sich dementsprechend auch nicht gewehrt.»
«Ganz recht», erwiderte der Leichenbeschauer.
«Seit wann ist der junge Eibisch schon tot?»
Der Leichenbeschauer wiegte den Kopf. «Der Leichnam fühlt sich kalt und steif an. Der Tod ist also vor zwölf bis achtundvierzig Stunden eingetreten. Angesichts der Leichenflecken denke ich aber, dass der Mann gestern Abend oder in der Nacht ums Leben gekommen ist.»
Inzwischen war der Richter wieder
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