Galgentod
das den Abhang hinuntergestürzt war. Niemand wäre auch nur im Geringsten auf den Gedanken gekommen, das keine zwanzig Meter weiter ein Mensch mit dem Tod rang.
Als die dunkle Stimme des Gerichtsmediziners Wolbert ertönte, schaute Schnur endlich wieder auf. »Mathilde Graufuchs ist erstickt. Den Strick um ihren Hals hat sie sich durch die Versuche, sich von den Fesseln an den Händen zu befreien, selbst nach und nach zugezogen. Und dass sie an ihren Fesseln heftig gezogen hat, ist an den Einblutungen der Haut an den Handgelenken deutlich festzustellen.«
Schnur hatte Mühe, sich nicht zu übergeben.
»Der Knebel besteht übrigens aus dem Futterstoff von Mathilde Graufuchs’ Rock. Er wurde sozusagen improvisiert. Der hat ihr das Atmen zusätzlich erschwert. Hinzu kommen Hitze und die daraus folgende Dehydrierung. Keine schöne Art zu sterben.«
Wieder trat eine bedeutungsvolle Pause ein, bis Dr. Wolbert sagte: »Aber das Schlimmste kommt noch.«
Ann-Kathrin Reichert und Jürgen Schnur starrten den Mann erschrocken an.
»Was kann noch schlimmer sein?«, fragte die Staatsanwältin.
»Die Tatsache, dass Mathilde Graufuchs noch gelebt hat, als ihr die Krähen die Augen ausgepickt haben. Das erkennt man an den Einblutungen am Rand der Augenhöhlen, die nur dann entstehen, wenn noch Vitalfunktionen vorhanden sind.«
Die kleine Runde an dem Seziertisch in der Ecke hüllte sich in Schweigen. Nur die Geräusche, die von den anderen Tischen ausgingen, waren zu hören. Und diese Geräusche trugen nicht dazu bei, dass es für die Polizeibeamten angenehmer wurde.
Schnur schluckte verdächtig oft. Aber er blieb standhaft und stellte seine nächste Frage: »Wie lange war Mathilde Graufuchs insgesamt an dieser Eisenstrebe gefesselt?«
»Wir haben alle möglichen Auswertungen durchgeführt, können aber trotzdem nur ungefähre Angaben machen«, gab Dr. Wolbert zu. »Also nach dem fast nicht vorhandenen Mageninhalt und nach dem Stadium der Dehydrierung könnte man davon ausgehen, dass sie womöglich in den frühen Morgenstunden, als es noch kühler war, dort gefesselt wurde.«
»Oder am Mittwoch, als sie mit der Schülergruppe dort war?«, bohrte Schnur weiter.
Dr. Wolbert nickte und meinte: »Das wäre auch möglich.«
Kapitel 50
Erik schnaufte. Er hielt eine Hand vor die Augen, um besser den Schulhof in dem grellen Sonnenlicht überblicken zu können.
»Bist du dir sicher, dass du die drei hier gesehen hast?«, fragte er verdrossen.
»Ganz sicher. Ich ahne auch, wo wir sie finden.«
Esther steuerte zielstrebig das Versteck an, in dem sie Lara Ferringer schon einmal angetroffen hatte.
Erik folgte ihr.
Volltreffer! Dort standen sie und rauchten.
Mirna Voss leistete Lara Ferringer und Dominik Jost Gesellschaft.
»Hier kommt mein Retter«, flötete sie und blies den Rauch direkt in Eriks Gesicht.
»Warum Retter?«, fragte Erik verwirrt und hustete.
»Du hast doch den bösen Lehrer-Mörder gefasst. Oder?«
»Wer sagt denn sowas?« Erik stutzte.
Alle schauten Mirna überrascht an.
»Ich weiß, dass ihr Fred Recktenwald mitgenommen habt.«
Erik spürte, wie ihm ganz heiß wurde. Mirna war gerade dabei, falsche Behauptungen aufzustellen. Wem hatte sie schon alles davon erzählt?
»Wir haben nur den Zeugen befragt, der die Tote gefunden hat«, wehrte er hastig ab. »Mehr nicht.«
»Klar. Ich glaube auch an den Weihnachtsmann.« Mirnas Blick strotzte vor Schalk.
»Komm bitte mit.« Erik griff Mirna am Arm und ging mir ihr auf den Gebäudekomplex zu, in dem die Turnhallen untergebracht waren.
»Was soll das, deinen Nachbarn zweier Morde zu beschuldigen?«, fragte er böse. »Das ist Verleumdung der übelsten Art. Was hat dir dieser Mann getan?«
»Ich beschuldige ihn nicht nur, ich bin mir sogar sicher, dass er dahintersteckt«, behauptete Mirna stur. »Als Bertram Andernach getötet wurde, war er nämlich nicht zuhause.«
»Woher weißt du das?«
»Ich bin um ein Uhr in Picard aufgebrochen, weil es mir allein zu langweilig wurde. Yannik hat mich abgeholt. Bevor ich das Haus verlassen habe, konnte ich gerade sehen, wie er sich heimlich auf sein Grundstück geschlichen hat.«
»Dann muss Yannik ihn auch gesehen haben«, stellte Erik fest. »Der Eingang zu Fred Recktenwalds Haus liegt nämlich direkt neben deinem.«
»Eben nicht«, widersprach Mirna. »Es gibt noch einen Schlupfwinkel an anderem Ende des verwahrlosten Grundstücks. Dort stiehlt er sich immer dann rein, wenn er nicht beobachtet werden will.
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