Galgentod
unterrichteten beide noch heute an der Schule.
Kapitel 49
Sie stiegen in den Dienstwagen und fuhren zum Institut für Gerichtsmedizin nach Homburg. Die Fahrt legten sie schweigend zurück, weil sie beide wussten, was sie dort erwartete. Die gute Stimmung, die noch vor wenigen Minuten auf dem St. Johanner Markt geherrscht hatte, war wie weggeblasen. Kaum hatten sie die Unikliniken erreicht, ihren Wagen abgestellt und die Sektionsräume betreten, fühlten sie sich von einem Todeshauch eingehüllt, der an die Sterblichkeit der Menschen erinnerte. Sämtliche Tische waren mit Leichen belegt und umlagert von Gerichtsmedizinern, die redeten, diktierten, Gehirne abwogen, Bauchhöhlen öffneten, Organe entnahmen – und das alles gleichzeitig.
»Ich werde mich niemals daran gewöhnen«, stellte Schnur verdrossen fest, als er das sah.
»Das spricht für dich«, erkannte Ann-Kathrin. »Sonst müsste ich noch befürchten, du könntest nekrophil werden.«
Entsetzt schaute Schnur seine Begleiterin an. Erst als er ihr schelmisches Lachen sah, erkannte er, dass es ihr glänzend gelungen war, ihn auf den Arm zu nehmen.
Dr. Thomas Wolbert winkte sie herbei. Neben ihm stand der forensische Entomologe Dr. Wedick, dessen Auftreten auf der Teufelsburg Jürgen Schnur noch lebhaft in Erinnerung war. Die beiden Spezialisten standen vor einem Tisch in der Ecke. So hatten die Polizeibeamten zumindest das Glück, nicht von allen Seiten von Leichen umgeben zu sein. Doch ihre Erleichterung sollte nicht von langer Dauer sein. Der Anblick von Mathilde Graufuchs hatte sich nicht gebessert, seit sie von der Teufelsburg zur Uniklinik in Homburg gebracht worden war.
»Nicht so schüchtern«, begrüßte Dr. Wolbert die beiden und lachte. »Wir haben sämtliche Nekrophagen von der Leiche entfernt – also sieht sie doch gar nicht mehr so schlimm aus.«
»Dabei sollten wir den Wert unserer kleinen Helfer besser zu schätzen wissen«, warf Dr. Wedick ein, wobei er sich stoisch immer wieder die Brille von der Nasespitze zur Nasenwurzel hochschob. »Durch die Nekrophagen können wir nämlich errechnen, wie lange die Frau an dieser Stelle gelegen hat, was auf keinem anderen Weg möglich ist.«
»Das heißt, dass Sie das Ergebnis schon berechnet haben«, wandte die Staatsanwältin ein, während Schnur hoffte, dass er schnell zur Sache kam.
»Ich kann euch schon mal mit Sicherheit sagen, dass Mathilde Graufuchs nicht erschossen wurde«, begann Dr. Wedick. Seine roten Haare leuchteten in den gekachelten Räumen mit der Haarpracht der Staatsanwältin um die Wette. Mit seinen grünen Augen blitzte er Ann-Kathrin durch die Brillengläser an, die seinen Blick nicht minder funkelnd erwiderte.
»Und die Einschusswunde?«, fragte sie.
»Das war keine Einschusswunde. Ich konnte dieses Loch eindeutig als Mistkäferfraß identifizieren. Die sommerlichen Temperaturen haben die Tote zumindest stellenweise mumifiziert. Dadurch bekam der Käfer eine Chance, sich genau an den Stellen einzunisten.« Zum Beweis schwenkte der Entomologe zu jeder Aussage, die er machte, ein Foto herum, das seine Worte bezeugen sollte.
Schnur verzichtete daraufzuschauen.
»Unsere Maden stammen hauptsächlich von der grünen Lucilia-Fliege. Nach langen Studien haben wir häufiger die Beobachtung gemacht, dass bei extremer Hitze die Lucilia-Fliege die aktivere ist, da sie sie Sonne mehr liebt als ihre Verwandte, die Calliphora-Fliege.«
Wieder die entsprechenden Fotos dazu, die Schnur nichts sagten, außer dass sie Ekel in ihm hervorriefen.
»Wann ist Mathilde Graufuchs gestorben?« Diese Frage interessierte ihn viel mehr als die besonderen Vorlieben der Schmeißfliegen und ihrer Verwandten.
»Die Madenlänge ist noch sehr gering und ihre Farbe immer noch sehr hell, was gute Rückschlüsse zulässt. Hinzu kommt, dass keine leeren Puppenhülsen von vorherigen Generationen am Leichenliegeort gefunden worden sind. Also kann die Todesdauer nicht sehr lange gewesen sein.«
»Auf gut deutsch?«
»Sie starb in den Nachmittagsstunden des vorangegangenen Tages.«
Schnur schnappte nach Luft.
Ann-Kathrin staunte über seine heftige Reaktion. Sie konnte nicht wissen, dass er sich nur wenige Meter von Mathilde Graufuchs entfernt aufgehalten hatte, als sie qualvoll zu Tode gekommen war.
Dr. Wedick setzte zu einem langen Vortrag an, wie er zu dieser Erkenntnis gelangt war. Aber Schnur hörte nicht mehr hin. Er sah sich ständig in der Nähe der Burg, wo sie einem Mädchen geholfen hatten,
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