Gammler, Zen und hohe Berge (German Edition)
niemand hatte sie oder mich gebeten zu wachsen.
Am Nachmittag wehte das samtweiche Wolkendach stellenweise weg, und Ross Lake kam in Sicht, ein schönes, himmelblaues Wasserbecken tief unten mit winzigen Spielzeugschiffen mit Ausflüglern, die Schiffe selbst zu weit entfernt, als dass ich sie erkannt hätte, nur die erbärmlichen kleinen Rillenspuren, die sie auf dem Spiegelsee zurückließen. Im See konnte man umgekehrt gespiegelte Kiefern erkennen, die in die Unendlichkeit wiesen. Am Spätnachmittag lag ich im Gras mit der ganzen Herrlichkeit vor mir und fing an, mich ein bisschen zu langweilen, und dachte: ‹Stumpfsinn im Gras! Nichts macht mir Spaß!› Dann sprang ich auf und fing an zu singen und zu tanzen und durch die Zähne zu pfeifen, weit über die Lightning-Schlucht rüber, und sie war so riesig, dass kein Echo kam. Hinter der Hütte lag ein ungeheures Schneefeld, das mich bis September mit frischem Trinkwasser versorgen würde, ein Eimer pro Tag im Haus geschmolzen, aus dem man mit einer Blechtasse schöpfte, kaltes Eiswasser. Ich fühlte mich so glücklich wie seit Jahren nicht, seit der Kindheit, ich fühlte mich gesammelt und froh und einsam. «Juhu! Dideldum, Holldrioh», sang ich, als ich umherwanderte und mit Steinen bolzte. Dann kam mein erster Sonnenuntergang, und er war unglaublich. Die Berge waren von rosa Schnee bedeckt, die Wolken waren fern und gekräuselt und wie alte, entrückte Städte im Glanze des Buddhalandes, der Wind war unaufhörlich in Bewegung, sch sch! – sch sch! – wummerte manchmal, rüttelte mein Schiff. Die Scheibe des Neumonds wölbte sich nach vorn. Scharfe Spitzen stießen hinter Hängen hervor, wie Gebirge der Kindheit. Irgendwo, schien es, fand ein goldenes Fest der Freude statt. In mein Tagebuch schrieb ich: «Oh, bin ich glücklich!» In den Gipfeln des versinkenden Tages sah ich die Hoffnung. Japhy hatte recht gehabt.
Als die Dunkelheit meinen Berg einhüllte, und bald würde es wieder Nacht sein und Sterne und der fürchterliche Schneemensch stakst auf dem Hozomeen herum, da machte ich im Ofen ein knisterndes Feuer und buk köstliche Roggenmuffins und rührte mir einen ordentlichen Fleischeintopf zusammen. Ein hoher Westwind schlug gegen die Hütte, sie war gut gebaut, mit Stahlstreben, die in Betonfüllungen hinuntergingen; sie würden nicht wegwehen. Ich war zufrieden. Immer wenn ich aus dem Fenster guckte, sah ich Gebirgskiefern mit schneebedeckten Gipfeln im Hintergrund, undurchsichtige Nebelschwaden oder unten den See, gewellt und mondig wie ein Badewannensee für Kinder zum Spielen. Ich machte mir einen kleinen Strauß aus Lupinen und Sträuße aus Bergblumen und stellte sie in einen Kaffeebecher mit Wasser. Die Spitze des Jack Mountain war von Silberwolken eingefasst. Manchmal sah ich in weiter Ferne wetterleuchtende Blitze, die plötzlich das ganze unglaubliche Panorama erhellten. Manchmal lag morgens Nebel, und meine Bergkette, Starvation Ridge, war ganz in Milchweiß getaucht. Pünktlich am folgenden Sonntagmorgen, genau zur selben Zeit wie am ersten, enthüllte der Tagesanbruch dreihundert Meter unter mir ein Meer von flachen, glänzenden Wolken. Immer wenn ich Langeweile kriegte, drehte ich mir wieder eine Zigarette aus meiner Dose Prince Albert; es gibt auf der Welt nichts Besseres als eine ohne Hast genossene Selbstgedrehte. Ich schritt umher in der hellen Silberstille mit rosa Horizonten im Westen, und alle Insekten verstummten zu Ehren des Mondes. Es gab Tage, die heiß und unerträglich waren, mit Heuschreckenplagen von Insekten, Flügelameisen, Hitze, keine Luft, keine Wolken, ich konnte nicht verstehen, wieso es auf einem Berggipfel im Norden so heiß sein konnte. Mittags war das einzige Geräusch auf der Welt das symphonische Summen einer Million von Insekten, meiner Freunde. Aber die Nacht kam, und mit ihr der Bergmond, und der See hatte Mondstreifen, und ich ging raus und saß im Gras und meditierte mit dem Blick nach Westen, wünschte, es gäbe einen Persönlichen Gott in all dieser unpersönlichen Materie. Nachts, während ich in meinem Schlafsack war, kam das Wild vom tiefergelegenen Wald herauf und nippte an Speiseresten auf Blechtellern im Hof: Böcke mit ausladendem Geweih, Hirschkühe und aufgeweckte kleine Kitze, die mit all dem Mondscheingefels hinter sich aussahen wie Säugetiere von einem anderen Planeten, die sich in unsere Welt verirrt haben.
Dann kam wilder, lyrischer Nieselregen, von Süden, mit dem Wind, und ich sagte:
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