Garantiert gesundheitsgefährdend: Wie uns die Zucker-Mafia krank macht (German Edition)
herstellt.
Bei der Markteinführung in London haben sie sogar ein tonnenschweres Gewässer, samt grünen Stevia-Gewächsen und kleinen Booten, auf ein Kaufhausdach gewuchtet, in der Oxford Street, der Shoppingmeile, damit sich die Konsumenten fühlen durften wie im Urwald, wo die ganze Geschichte begann, die jetzt für die Zukunft so wichtig wird.
Im Urwald, bei den Wasserfällen, da hatte ein Schweizer einst die neue Süße entdeckt, vor über 100 Jahren. Er war ein Naturwissenschaftler, aber auch ein Anarchist und Abenteurer: Moises Bertoni, geboren am 15. Juni 1857 in Lottigna bei Bellinzona im südschweizerischen Kanton Tessin. Studiert hatte er in Genf und Zürich, sich dort aber verliebt in Eugenia Rossetti, Studentin der Biochemie, die er nach einem Jahr heiratete. Einen Abschluss machte er nicht. Am 3. März 1884 verlässt er die Schweiz, zusammen mit seiner Frau, seiner Mutter, ihren Kindern und 40 Schweizer Bauern. Sie wollen eine Landkommune gründen, in Südamerika. Auf dem Dampfer »Nord Amerika« stechen sie in See. Am 30. März landen sie in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Doch aus dem anarchosozialistischen Projekt wurde nichts. Bertoni zog erst mal mit seiner Kleinfamilie weiter und ließ sich 1887 in Paraguay nieder, in der Nähe der berühmten Iguazu-Wasserfälle. Dort gründete er eine landwirtschaftliche Kolonie und benannte sie als traditionsbewusster Schweizer Anarchist nach dem eidgenössischen Nationalhelden Wilhelm Tell (Colonia Guillermo Tell).
Der Exilschweizer hatte sich von den Urwaldbewohnern einweihen lassen in ihre Geheimnisse, sprach mit Kräutersammlern und den Guarani-Indianern, die dort lebten. Sie erzählten ihm von einem Kraut, das sie Caa’-ehe nannten, oder Kaa’he-E, so genau ist die Schreibweise nicht überliefert, jedenfalls bedeutete es »süßes Kraut«, und sie nahmen es zum Süßen ihres Mate-Tees.
Bertoni wurde in seiner neuen Heimat bald el Sabio genannt, der Weise. Der Ort am Ufer des Paraná-Flusses, in einem 10 000 Hektar großen, von jenen Indianern bewohnten Stück Urwald, wird später nach ihm benannt (Puerto Bertoni), ebenso der Naturpark, in dem sein Wohnhaus lag (Monumento Científico Moisés S. Bertoni). Und natürlich die Pflanze, die er in Paraguay gefunden hatte, Stevia rebaudiana Bertoni. Sie ist eine sogenannte Kurztagspflanze. Das bedeutet, dass die Blüte erst im Herbst einsetzt, wenn die Tage kürzer werden. Sie gehört, botanisch betrachtet, zur Familie der Korbblütler. So begann die Geschichte.
Fast wäre die Korbblütlerin damals schon nach Europa exportiert worden: Erst begann das deutsche Reichsgesundheitsamt mit Experimenten; die kaiserliche Armee sollte mit Mate-Tee gestärkt werden, durch Stevia gesüßt. Doch das Projekt zerschlug sich, als der Erste Weltkrieg ausbrach, ebenso wie Versuche in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg, wo Stevia als Zucker-Ersatzstoff aufgebaut werden sollte, weil wegen der deutschen U-Boot-Blockade Zucker knapp geworden war. Nach dem Krieg gab es wieder genug davon, und Stevia geriet in Vergessenheit.
Mittlerweile kommen 95 Prozent der Stevia-Produktion aus China, was den Japanern zu verdanken ist, die bei zwei Expeditionen in den Jahren 1968 und 1971 fast den gesamten Bestand in den Wäldern Paraguays ausgegraben und nach Japan geschafft hatten, dort wieder eingegraben, zunächst in Forschungsfeldern, später auf kommerziellen Plantagen. Stevias Karriere nahm nun Fahrt auf. Schon 1975 gab es die ersten Stevia-Produkte in Japans Supermärkten. Schließlich verlagerten die japanischen Stevia-Hersteller, darunter namhafte Großkonzerne wie Mitsubishi-Chemicals, den Anbau ins preisgünstige China.
Einem Erfolg in Europa stand damals der Umstand entgegen, dass die Süßpflanze aus dem Urwald und der daraus gewonnene Süßstoff als »neuartiges Lebensmittel« nach der sogenannten Novel-Food-Verordnung zugelassen werden mussten, was erst gelang, als sich US-Großkonzerne der Sache annahmen, vor allem Coca-Cola. Sie setzen große Hoffnungen auf den neuen Süßstoff mit dem Indianerimage. Die Hersteller der Süßgetränke stehen unter wachsendem Druck, seit das Süße in die Krise geraten ist. Nicht nur der Zucker, die Basis ihres Erfolges, ist in Misskredit, auch Fruktose, der Fruchtzucker, und erst recht die künstlichen Süßstoffe, die synthetisch hergestellt werden in großchemischen Anlagen.
Das zeigt der Fall des wichtigsten künstlichen Süßstoffes, Aspartam (E951). Bisheriger
Weitere Kostenlose Bücher