Garou
von eiskaltem Holz und dem schweren Schweigen des Schnees. Er verstand, dass überall solche Aste unter Schnee ächzten. Und einige davon würden brechen.
Der Wald im Winter war ein gefährlicher Ort.
Zora, Maude, Heide und Madouc blieben an einem Kreuzweg stehen. Bisher waren sie der Straße gefolgt, und weil sie an einem eckigen Schild mit einem gemalten Reh vorbeigekommen waren, waren sie sich einigermaßen sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Das Schild war ihnen schon auf dem Hinweg vom Auto aus aufgefallen. Aber nun gab es auf einmal drei Wege und viele spitze Schilder, die in alle möglichen Richtungen zeigten. Schilder mit Zeichen. Weiße und gelbe, blaue und braune.
Maude witterte wichtigtuerisch hin und her, aber da war nichts, nur Schnee und Wald, Wald und Schnee. Zora spähte durch die Baumkronen nach der Sonne, Heide war dafür, einfach zu raten. Nur Madouc legte den Kopf schräg und blickte weiter zu den Schildern hinauf.
»So viele Schilder«, sagte sie. »Ich bin mir sicher, es hat einen Grund, dass sie hier sind.«
»Was für einen Grund?«, blökte Heide. »Es gibt auch keinen Grund dafür, dass die Bäume hier sind!«
»Doch«, sagte Madouc. »Die Bäume sind hier, weil wir im Wald sind!«
Das stimmte. Die Schafe sahen sich die bunten Metalldinger noch einmal genauer an. Die meisten von ihnen waren spitz auf der einen Seite und flach und eckig auf der anderen. Auf allen waren Zeichen, die Zeichen, aus denen Geschichten sind, aber nur auf einem war auch ein Bild.
»Das da!«, meckerte Madouc. »Das ist der Turm!«
Sie hatte Recht. Der Turm auf dem Bild war viel kürzer und dicker als der Turm des Schlosses, aber beide hatten die gleiche gezackte Spitze.
»Na und?«, sagte Maude und witterte das Schild an. »Es riecht nicht wie der Turm!«
»Das ist die Nase«, sagte Heide und blickte auf den spitzen Teil des Schildes. »Die Schraube da ist das Auge, und der Turm bedeutet, dass es zum Turm guckt!«
Es war eine kühne Theorie, aber es war ihre einzige Theorie. Die Schafe bogen nach rechts und folgten der Nase des braunen Schildes, tiefer in den Wald hinein.
Heide war kalt, und sie traute sich nicht einmal, klagend zu blöken. Kälte war unter Schafen kein populäres Thema. Wenn man nur genug wollte, war Kälte kein Problem, hieß es. So weit die Theorie. Die Praxis sah anders aus.
Maude war deprimiert, weil sie trotz ihres guten Geruchssinns nichts als Wald und Schnee riechen konnte, so weit die Nase reichte. Wie konnte sie wissen, dass sie noch immer gut riechen konnte, wenn sie nichts roch?
Madouc lief zick-zack.
Zora dachte.
»Und?«, fragte sie Madouc schließlich. Madouc hörte auf zu zack-zicken. »Und was?«
»Hast du den Garou nun gesehen?«, fragte Zora. »Meistens nicht«, sagte die kleine Ziege. »Teile von ihm.«
»Teile?«, schnaufte Maude. »Was für Teile?«
»Hände«, sagte Madouc.
»Haben Wölfe Hände?«, fragte Heide.
»Dieser schon«, sagte Madouc. »Zwei. Die braucht er, um sich mit Werwolfsalbe zu bestreichen. Nur ist die Salbe ein Pulver.« Sie kickte dramatisch nach hinten aus, und pulvriger Schnee staubte.
»Woher weißt du das alles?«, fragte Zora. »Das mit der Salbe, meine ich, und mit den Kugeln und dem Silber und dem Mond und all die anderen Sachen über den Garou?«
»Der Hirt hat es mir erzählt«, sagte Madouc. »Der Hirt spricht von nichts anderem.«
»Der Hirt spricht mit dir?«, fragte Zora.
»Der Hirt spricht nur mit mir«, sagte Madouc stolz. »Mit den anderen spricht er schon lange nicht mehr.«
»Warum nicht?«, fragte Heide.
»Weil die anderen doof sind«, sagte Madouc. »Doof und verrückt ist nicht das Gleiche, wisst ihr? Der Hirt versteht das.« Madouc schwieg einen Moment.
»Früher waren alle verrückt«, sagte sie dann. »Das ganze Schloss. Und jetzt sind nur noch ein paar verrückt. Heimlich verrückt, sozusagen.«
»Wer sagt das?«, fragte Zora.
»Der Hirt«, sagte Madouc. »Wir haben bis vor kurzem alle zusammengewohnt.«
»Wer - alle?«, fragte Heide.
»Na - ich und er«, sagte Madouc.
»Wirklich?«, fragte Heide. »Auf der Weide?«
Sie versuchten, sich den Hirten grasend und rupfend und springend vorzustellen, und konnten es nicht.
»Nicht auf der Weide«, sagte Madouc. »In einem Haus aus Stein und Holz und Feuer.«
»Warum denn das?«, blökte Heide. Aber Madouc wollte nicht sagen, warum.
Die Schafe hätten sich viel länger über das Verschwinden Othellos gewundert, wenn nicht Eric auf ihrer Weide
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