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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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unter den Heizlüftern und wärmte sich
auf.
    »Wie geht’s?«, fragte Garp ihn
dann. »Du bist doch nicht etwa nass? Tropf mir nicht die Matte voll,
verstanden?«
    »Nein«, erwiderte Duncan darauf.
»Alles in Ordnung.«
    Helen besuchte den Ringerraum
häufiger. Sie las alles wieder, und sie kam manchmal in den Ringerraum, um zu
lesen – »wie wenn man in einer Sauna liest«, sagte sie oft –, und dann und
wann, wenn ein ungewöhnlich lautes Klatschen oder ein Schmerzensschrei ertönte,
blickte sie von ihrer Lektüre auf. Das Einzige, was Helen beim Lesen in einem
Ringerraum störte, war, dass ihre Brillengläser dauernd beschlugen.
    »Sind wir eigentlich schon
gesetzten Alters?«, fragte Helen Garp eines Abends in ihrem wunderschönen Haus.
Vom vorderen Wohnzimmer aus konnten sie an klaren Abenden die erleuchteten
Fenster der Jenny-Fields-Krankenstation sehen und über den grünschwarzen Rasen
hinweg zu der einsamen Laterne über dem Eingang des Nebengebäudes
hinüberblicken, in dem Garp als Kind gewohnt hatte.
    »Du meine Güte«, sagte Garp.
»Gesetzten Alters? Wir sind schon im Ruhestand – so
sieht’s aus. Wir haben das [724]  gesetzte Alter übersprungen und sind direkt in
die Welt der Senioren eingezogen.«
    »Deprimiert dich das?«, fragte
Helen ihn vorsichtig.
    »Noch nicht«, sagte Garp. »Wenn
ich die ersten Anzeichen einer Depression bemerke, werde ich etwas anderes
machen. Oder einfach nur irgend etwas. Wahrscheinlich
haben wir allen anderen gegenüber eine Vorgabe, Helen. Wir können uns eine
lange Auszeit leisten.«
    Helen bekam Garps
Ringerterminologie langsam satt, aber sie war schließlich damit aufgewachsen;
es perlte an ihr ab wie Wasser an einer Ente. Und obwohl Garp nicht schrieb,
kam er Helen ganz glücklich vor. Abends las Helen, und Garp sah fern.
    Garps Werk stand jetzt in
einem eigenartigen Ruf, der in gewisser Weise dem entsprach, was er sich
gewünscht hatte, und noch seltsamer war, als John Wolf es sich vorgestellt
hatte. Obwohl es Garp und John Wolf stutzig machte zu sehen, wie Bensenhaver und wie er die Welt sah aus rein politischen
Motiven gepriesen wie auch geschmäht wurde, hatte der Ruf des Buches die Leser
dazu veranlasst, sich Garps früheren Arbeiten zuzuwenden, ob nun aus den
richtigen oder den falschen Gründen. Garp lehnte Einladungen, an Colleges
Vorträge zu halten und die eine oder andere Seite sogenannter Frauenfragen zu
vertreten, höflich ab; er wollte auch nicht über seine Beziehung zu seiner Mutter
und über die »Geschlechterrollen« sprechen, die er verschiedenen Gestalten
seiner Bücher gab. »Die Zerstörung der Kunst durch Soziologie und
Psychoanalyse«, nannte er es. Aber er wurde fast genauso oft gebeten, aus [725]  seinen
Werken zu lesen; dann und wann nahm er die eine oder andere Einladung an –
besonders wenn es irgendwo war, wo Helen gern hinwollte.
    Garp war glücklich mit Helen. Er
war ihr nicht untreu, nicht mehr; dieser Gedanke kam ihm nur noch selten.
Vielleicht hatte sein Umgang mit Ellen James ihn endlich davon geheilt, junge
Mädchen mit solchen Augen zu betrachten. Was andere Frauen – in Helens Alter
und älter – betraf, so verschanzte er sich hinter einer Willenskraft, die ihn
keine allzu große Überwindung kostete. Er hatte sich in seinem Leben schon
genug von seinen Trieben leiten lassen.
    Ellen James, die elf war, als man
sie vergewaltigt und der Sprache beraubt hatte, war neunzehn, als sie zu den
Garps zog. Für Duncan war sie sofort wie eine ältere Schwester, genau wie er
Mitglied im Club der Versehrten, dem er sich auf seine scheue Art angehörig
fühlte. Sie standen einander sehr nahe. Ellen James half Duncan bei den
Hausaufgaben, weil sie in Lesen und Schreiben so gut war. Duncan seinerseits
regte Ellen James zum Schwimmen und zum Fotografieren an. Garp richtete ihnen
eine Dunkelkammer im Steering’schen Herrenhaus ein, und sie verbrachten Stunden
im Dunkeln, wo sie unentwegt entwickelten – unter Duncans pausenlosem Geplapper
über Blenden und Belichtung und den wortlosen Ooohs und Aaahs von Ellen James.
    Helen kaufte ihnen eine
Schmalfilmkamera, und Ellen und Duncan schrieben zusammen ein Drehbuch und
traten in ihrem eigenen Film auf – der Geschichte von einem blinden Prinzen,
dessen Augenlicht teilweise wiederhergestellt wird, als er eine junge Putzfrau
küsst. Nur das eine Auge des Prinzen wird geheilt, weil sich die Putzfrau von
dem [726]  Prinzen nur auf die Wange küssen lässt. Es ist ihr peinlich, sich

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