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Gast im Weltraum

Gast im Weltraum

Titel: Gast im Weltraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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einmal drang aus dem Lautsprecher ein metallischer, unartikulierter Laut, dem rasch ein zweiter, dritter, vierter folgte, immer ungestümer, lauter. Der Boden unter den Menschen in dem dunklen Raum bebte, Staub wirbelte auf. Furchtbare Stöße schüttelten die Männer, ihre Beine knickten ein. Unter dem Ansturm des rasselnden Knirschens, des Stöhnens und Schnaufens stürzten sie auf die Tür zu, warfen einander zu Boden, traten, stießen, rangen miteinander im panischen Schrecken ihrer kopflosen Flucht; denn sie hatten das Entsetzliche begriffen: Der Automat lachte…“
Pjotr vom Ganymed
    Zwanzig Monate waren seit der Operation vergangen. Der Zustand des Patienten war unverändert. Wir hatten ihm zwar das Leben gerettet, aber nicht mehr. Die Narben in seinem Gehirn hemmten den Kreislauf des Denkens. Er konnte nicht sprechen, nicht schreiben, nicht lesen. Überdies litt er an Rindenblindheit. Das bedeutete nicht, daß er überhaupt nichts sah, nein, seine Augen reagierten auf Licht, aber das Sehzentrum war wie eine Insel, die durch Narben vom Gedächtnis getrennt war. Pjotr sah deshalb nur ein Chaos farbiger Flecken und Formen. Völlig hilflos und ratlos bewegte er sich wie ein Blinder tastend durch die ihn umgebende Welt voll unbegreiflicher Erscheinungen. Dieser Zustand währte bis zur nächsten Operation, die wir im zweiten Jahr unseres Weltraumfluges ausführten. Die Rekonvaleszenz dauerte lange. Pjotr erlangte seine geistigen Fähigkeiten nur allmählich und mit großer Anstrengung zurück. Er fing nicht wieder zu sprechen an, sondern lernte es eigentlich von neuem. Ich nahm an seinen allabendlichen Unterrichtsstunden regelmäßig teil. Sie erforderten viel Geduld und Mühe, aber ich bereute es nicht; denn es machte sich reich bezahlt. Ende des zweiten Jahres unterschied sich Pjotr kaum noch von den anderen Gef ährten, wenn man nicht in Betracht zog, daß er die meisten Begebenheiten und Ereignisse seiner Vergangenheit nur als erlernte und nicht als bewußt erlebte Tatsachen kannte. Seine eigene Lebensgeschichte erzählten wir ihm so, wie sie uns aus Funkmeldungen von der Erde bekannt war.
    Pjotr saß nun bereits in einem bequemen Sessel in unserem kleinen Kreis. Er war stark abgemagert, wurde aber von Tag zu Tag zusehends kräftiger und äußerte immer häufiger den Wunsch, sich einer Gruppe junger Menschen anzuschließen, die Kosmonautik studierten. Freudig begrüßten wir dieses Vorhaben, denn wir waren überzeugt, daß eine geregelte Arbeit der beste Weg für ihn war, in das normale Leben zurückzukehren. Nun durfte er alles erfahren, was mit ihm in den letzten zwei Jahren geschehen war; es beunruhigte ihn, daß er darüber nichts wußte. Ter Haar und ich erzählten ihm also, auf welche Art er an Bord der Gea gekommen war. Behutsam erwähnte ich auch das Experiment bei der Untersuchung seines Gehirns. Pjotr hörte mir anfangs ruhig zu, dann belebte sich sein Blick, die Augen glänzten, so daß ich einen Rückfall in das Nervenfieber befürchtete, das ihn lange Zeit gequält hatte.
    Eines Abends erklärte er mir, er habe den Wunsch, den Menschen, die ihm das Leben gerettet hatten, über seine einzige Erinnerung, die ihm nach dem Unglück geblieben war, zu berichten. Ich versuchte, es ihm auszureden; aber er bestand so hartnäckig darauf, daß wir schließlich, nach einer Beratung mit Professor Schrey und Anna, einwilligten. Außer uns Ärzten und Ter Haar war Ameta zugegen. Die Gesellschaft des Piloten übte einen eigenartigen und erstaunlich kräftigenden Einfluß auf den Genesenden aus. Pjotr sprach in kurzen, häufig unterbrochenen Sätzen. Dann sah er Anna oder mich fragend an, wie in der stillen Hoffnung, daß wir ihm das nächste Wort soufflierten, damit er weitersprechen konnte. Seine Erzählung lahmte, mitunter schwieg er lange, um mühsam nachzugrübeln. Mit geschlossenen Augen versuchte er, eine verblaßte, vergessene Einzelheit in sich wachzurufen. Manchmal gelang es ihm, manchmal schüttelte er mit einem schwachen, ratlosen Lächeln den Kopf, als wollte er sagen: Ich habe es vergessen… Vielleicht erschütterte uns gerade deshalb seine einfache, ungeschminkt wahre Geschichte, die er vor unseren Augen rekonstruierte, wie ein Mensch, der nach langer Zeit in die Heimat zurückkehrt und vor den Trümmern seines Vaterhauses steht, ein Trümmerstückchen nach dem anderen aufhebt, aus ihnen nur die ihm allein sichtbare, erkennbare Gestalt des Ganzen anbliest und kraft seines Vorstellungsvermögens ein

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