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Gast im Weltraum

Gast im Weltraum

Titel: Gast im Weltraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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siehst, als was siehst du sie sonst?“
    „Versuchen wir es anders“, antwortete er. „Weißt du, wo du deine Hände und Füße hast, wenn du im Dunkeln sitzt?“
    „Natürlich.“
    „Mußt du dir, um das zu wissen, ihre Lage, ihre Form vorstellen?“
    „Nein, ich fühle sie ganz einfach.“
    „Siehst du, ebenso ,fühle‘ ich die Gleichungen“, rief er befriedigt.
    Ich verabschiedete mich von ihm in der festen Überzeugung, daß es mir niemals gelingen würde, in das Reich der Mathematik einzudringen, in dem er lebte. Aber als ich mich am Garteneingang auf eine Bank setzte, da wurde mir klar, daß ich bei dem Besuch alle quälenden Ängste so gründlich vergessen hatte, als wären sie niemals vorhanden gewesen. Rudelik hatte mir geholfen – Ameta und Zorin brachten es nicht fertig. Weshalb wohl? Ich spürte undeutlich, daß die Ruhe der beiden Piloten eigentlich die gleiche, nur gebändigte Unruhe war, die mich quälte. Rudelik, der in seiner Arbeit aufging, wußte nichts davon. Wie beneidete ich ihn um seine mathematischen Sorgen!
    Während ich so vor mich hin grübelte, tauchte in dem langen Korridor ein Mensch auf, ging an mir vorüber und verschwand hinter der Biegung. Der Widerhall seiner Schritte verstummte. Nur ein Lied, das die Kinder im Garten sangen, schallte durch den leeren Raum. Ich wollte mit meinen Gedanken zu Rudelik zurückkehren, aber es gelang mir nicht. Ich hatte das Gefühl, daß etwas Seltsames geschah, und erhob mich. In demselben Augenblick fiel mir ein, daß hinter der Biegung der Korridor vor der Schutzwand endet, die den bewohnten Teil des Schiffes von den Atomtriebwerken trennt. Was hatte der Mensch, der eben vorbeigekommen war, in diesem Winkel zu suchen? Ich lauschte – ringsum tiefe Stille. Langsam schritt ich auf die Biegung zu. In dem Halbdunkel, das dort herrschte, stand jemand vor der Panzerwand und preßte die Stirn an das Metall. Als ich zwei Schritte von ihm entfernt war, erkannte ich ihn. Es war Diokles. Deutlich hörte ich die Worte des Liedes, das die Kinder sangen:

„Der Kuckuck ruft, 
der Kuckuck ruft 
hinter dem Bach… 
hinter dem Bach…“

    „Was machst du denn hier?“
    Er rührte sich nicht. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie war wie aus Holz. Von unerklärlicher Angst ergriffen, packte ich ihn am Arm und versuchte, ihn von der Wand wegzuziehen. Er sträubte sich. Plötzlich wandte er mir sein Gesicht zu. Es war ganz ruhig, unbeteiligt wie eine starre Maske, als nähme es keinen Anteil an diesem stummen Ringen. Ich ließ die Hände sinken. In dem öden, leeren Winkel der Schutzwand hallten die Kinderstimmen wider:

„Die Vögel bauen Nester,
 Die Vögel bauen Nester.
Und ich nicht…
Und ich nicht…“

    „Diokles!“ Schweigen. „Bei aller Menschenliebe, Diokles! Antworte doch! Was fehlt dir? Kann ich dir helfen?“
    „Geh.“
    Blitzartig begriff ich alles. Diese Biegung des Korridors am Heck der Gea war dem Polarstern zugekehrt; das bedeutete, daß sie der Erde näher war als jeder andere Punkt des Raumschiffs – näher um einige Dutzend Meter, lächerlich angesichts der Lichtjahre, die uns bereits von der Erde trennten. Zu einer anderen Zeit hätte ich darüber gelacht, aber in diesem Augenblick brachte ich es nicht fertig.
    „Diokles!“ Ich versuchte noch einmal, ihn wegzuziehen.
    „Nein!“
    Klarer, deutlicher als jede lange Erklärung sagte dieses eine kurze Wort, daß sein „Nein“ etwas anderes war als die Ablehnung meiner Hilfe. Es bezog sich nicht nur auf mich, sondern auf jeden anderen Menschen, auf das ganze Schiff; es war die Negierung alles Bestehenden. Das Angstgefühl meines Alptraumes packte mich von neuem. Ich glaubte, im Bodenlosen zu versinken, wandte mich rasch um und lief mit weit ausholenden Schritten, wie gehetzt von dem Gesang der Kinder, in meine Wohnung. Selbst dort klangen in mir noch immer dieses „Nein“ und die letzte Strophe des Liedes nach:
„Und wenn ich im Frühling
gen Himmel fliege, 
hoch… 
ganz hoch…“
    Ich wagte nicht, mit einem anderen über diesen Vorfall zu sprechen. Am Nachmittag fuhr ich, diesmal absichtlich, in das unterste Stockwerk. Mein Verdacht bestätigte sich: Ich traf dort fünf oder sechs unserer Gefährten an. Sie standen am Ende des Korridors und starrten, als wären sie von dem matten Glanz der Panzerschutzklappe hypnotisiert, in die Höhlung des Trichters. Beim Klang meiner Schritte fuhren sie erschrocken zusammen und verdrückten sich. Da mir das Ganze sehr

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