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Gast im Weltraum

Gast im Weltraum

Titel: Gast im Weltraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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sonderbar vorkam, ging ich zu Ter Haar und erzählte ihm alles. Er überlegte lange und wollte sich vorerst nicht darüber äußern. Als ich aber darauf bestand – denn ich nahm mit Recht an, daß er zu dieser Angelegenheit viel sagen konnte –, da meinte er: „Das ist schwer zu definieren.
    Uns fehlen für solche Erscheinungen die passenden Worte. In früheren Zeiten hätte man eine solche Ansammlung von Menschen als Mob bezeichnet.“ „Mob?“ wiederholte ich. „Hat das etwas mit dem damaligen Militär zu tun?“ „Nein. Militär … das war eher das Gegenteil. Das Militär war nämlich eine straffe Organisation, der Mob hingegen war die unorganisierte Ansammlung einer größeren Anzahl Menschen.“
    „Entschuldige, aber dort unten waren es nur einige wenige…“
    „Das tut nichts zur Sache. Früher, lieber Doktor, waren die Menschen keine vernunftbestimmten Wesen wie heutzutage. Wirkten starke Impulse auf sie ein, dann ließen sie sich nicht mehr von der Vernunft leiten. Ein solcher Impuls brauchte übrigens nicht plötzlich aufzutreten, er konnte längere Zeit auf sie eingewirkt haben. Unsere Zeitgenossen besitzen ein so hohes Verantwortungsbewußtsein für ihr Tun, daß sie sich niemals ohne inneres Einverständnis, das einer gründlichen Überprüfung der jeweiligen Situation entspringt, einem fremden Willen unterordnen. Früher hingegen war der Mob in außergewöhnlichen Situationen, zum Beispiel bei einer Elementarkatastrophe, fähig – ich muß es aussprechen ein Verbrechen zu begehen.“
    „Was ist das, ein Verbrechen?“ fragte ich.
    Ter Haar strich sich mit der Hand über die Stirn, lächelte und antwortete: „Ach, lassen wir das! Im Grunde ist es wohl nur eine unrichtige Hypothese von mir… Wahrscheinlich irre ich mich. Wir kennen zu wenige Tatsachen, als daß wir eine Theorie aufstellen könnten. Im übrigen weißt du ja, daß ich von der Geschichtsforschung ,besessen‘ bin und deshalb alles mit ihren Kategorien vergleichen möchte.“
    Damit war unser Gespräch beendet. Als ich wieder in meiner Wohnung war, wollte ich das, was Ter Haar angedeutet hatte, gründlich überlegen und rief deshalb sogar unsere Trionenbibliothek an, um ein Geschichtswerk durchzusehen, das mir über den Begriff Mob Aufschluß geben konnte. Da ich dem Automaten nicht zu erklären vermochte, um was es mir ging, wurde nichts daraus.
    In den nächsten zwei Tagen ereignete sich nichts Besonderes. Wir nahmen an, daß die durch die Beschleunigung verursachte psychische Krisis überstanden sei. Die nächsten Ereignisse zeigten indessen, wie sehr wir uns getäuscht hatten.
    Am Mittag des dritten Tages stürzte Nils zu mir ins Zimmer und rief: „Doktor, Doktor… etwas Unerhörtes… komm rasch!“
    „Was ist denn geschehen?“ Ich lief an den Schreibtisch, auf dem jederzeit ein kleiner Koffer mit Instrumenten und Medikamenten griffbereit steht. „Nein, nein, laß. Um so etwas handelt es sich nicht“, sagte Nils etwas ruhiger. „Im Garten hat jemand das Video ausgeschaltet. Ein schauderhafter Anblick, sage ich dir! Eine ganze Menge Leute sind schon dort.“
    Ich folgte Nils. Er hatte mich mit seiner Erregung angesteckt. Wir benutzten den Fahrstuhl. Als ich die Fliederzweige am Garteneingang zur Seite bog, blieb ich wie angewurzelt stehen.
    Unmittelbar vor mir sah der Garten aus wie immer. Hinter den Blumenbeeten ragte die dunkle kanadische Fichte auf, darunter glänzten die nassen Steine des Baches, hinter der Fichte und den anderen Bäumen lag der kleine Lehmhügel mit der Sommerlaube. Das war alles. Rings um diese paar Quadratmeter Steine, Pflanzen und Erdreich erhoben sich die nackten Stahlwände, die kein Trugbild endloser Weiten mehr verhüllte. Es ist schwer zu beschreiben, welch erschütternden Eindruck die reglosen Bäume, die Eisenwände und die flache, niedrige Decke im fahlen, trüben Licht der Notbeleuchtung machten. Der blaue Himmel war verschwunden. Die feuchtwarme Luft war drückend, nicht der leiseste Lufthauch bewegte die Zweige der Büsche und Bäume. In der Mitte des Gartens hatten sich einige Dutzend Menschen angesammelt, die ebenso wie ich diese in ihrer stummen Aussage erschreckende Ruine des videoplastischen Bildes anstarrten. Einige Minuten später zwängte sich Yrjöla mit zornig zusammengepreßten Lippen durch den Fliederstrauch. Einige Videoplastiker folgten ihm. Sie kletterten auf den Steinhang. Bald darauf erlosch die Notbeleuchtung. Die Videoplastiker hatten sie ausgeschaltet, um die

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