Gast im Weltraum
Verantwortungsbewußtsein haben, nannte man damals Kommunisten. Martin war Kommunist. Der Staat verfolgte und tötete die Kommunisten. Sie mußten sich also verbergen. Der Geheimpolizei – sie hieß Gestapo – gelang es, Martin zu ergreifen. Martin war Mitglied des Organisationsbüros der Partei und kannte die Namen und Anschriften vieler Genossen. Die Gestapo verlangte von ihm, daß er sie preisgab. Er schwieg und wurde gefoltert. Wenn er blutüberströmt, bewußtlos zusammenbrach, wurde er mit eiskaltem Wasser übergossen, damit er wieder zu sich kam. Er schwieg. Mit gebrochenen Rippen, von Peitschenhieben zerfetzt, wurde er in ein Krankenhaus geschafft. Kaum war er zu Kräften gekommen, wurde er von neuem bis aufs Blut geschlagen. Er aber schwieg. Tag und Nacht wurde er verhört, von starkem, grellem Licht jäh aus dem Schlaf gerissen, heimtückischen, hinterlistigen Fragen unterworfen. Alles war vergebens. Endlich ließen sie ihn frei, um auf seiner Spur zu anderen Kommunisten zu gelangen. Er durchschaute diese Absicht und blieb zu Hause. Als er nichts mehr zu essen hatte, wollte er wieder in der Glashütte arbeiten, aber dort gab es für ihn keine Arbeit. Er versuchte, anderswo eingestellt zu werden, wurde aber überall abgewiesen. Erschöpft, entkräftet streifte er durch die Stadt, doch er ging zu keinem der Genossen, denn er wußte, daß er auf Schritt und Tritt beobachtet wurde.
Martin wurde zum zweitenmal festgenommen. Nun wandten sie eine andere Methode an. Er erhielt ein sauberes, geräumiges Zimmer für sich allein, gute Verpflegung und wurde von einem Arzt betreut. Fuhren die Gestapoleute in die Stadt, um einen Kommunisten zu verhaften, nahmen sie Martin mit, damit es so aussah, als führte er sie. Er mußte auch zugegen sein, wenn sie die gefangenen Genossen folterten, und er mußte vor der Zelle stehen, wenn die Gefolterten zurückgebracht wurden. Man redete ihnen zu, alles einzugestehen, da der Genosse, der vor der Tür gestanden hatte, ohnedies alles verraten habe. Wenn er seinen Genossen zurief, er sei in der gleichen Lage wie sie, dann taten die Gestapoleute, als hätten sie dies mit ihm vereinbart. Die Kommunistische Partei wurde dezimiert, die illegale Arbeit wurde immer schwieriger, und die Genossen mußten jeden meiden, der des Verrats verdächtig war. Flugblätter der Kommunisten warnten vor Martin. Die Gestapoleute zeigten ihm diese Mitteilungen. Dann ließen sie ihn, ohne ihn noch etwas zu fragen, wieder frei. Einige Monate später versuchte Martin vorsichtig, Verbindung zu anderen Genossen aufzunehmen; aber keiner wollte mit ihm zu tun haben, alle wichen ihm aus. Da ging er zu seinem Bruder, der ihn nicht einmal in die Wohnung ließ. Selbst seine Eltern wollten nichts mehr von ihm wissen. Seine Mutter schenkte ihm ein Stück Brot – das war alles. Er bemühte sich, Arbeit zu bekommen – ohne Erfolg. Er wurde zum drittenmal festgenommen. Ein hoher Gestapoführer sagte zu ihm: „Mensch, dein Schweigen hat doch keinen Sinn. Deine Genossen halten dich längst für einen Lumpen und Verräter. Bei der ersten besten Gelegenheit schlagen sie dich tot wie einen tollen Hund. Sei vernünftig und sprich!“
Martin schwieg. Er wurde entlassen und irrte hungrig durch die Stadt. Ein Fremder nahm ihn eines Abends mit in seine Wohnung, gab ihm zu essen und Alkohol zu trinken. Seelenruhig erklärte er Martin, es sei nun einerlei, ob er aussage oder nicht. Wenn nicht, dann würde er liquidiert. Aber der Tod nütze ihm nicht, denn er sterbe als Verräter. Martin schwieg. Der Fremde brachte ihn wieder ins Gefängnis. In einer Januarnacht, zwei Jahre nach der ersten Verhaftung, wurde er aus der Zelle geholt, in einen Keller geführt und durch einen Genickschuß umgebracht. Als er vor seinem Tode die Schritte seiner Henker hörte, ritzte er die Worte in die Wand: ,Genossen, ich…‘ Mehr zu schreiben, hatte er keine Zeit. Er hinterließ nur diese zwei Worte, die sein zweijähriges Schweigen brachen. Sein Körper verfaulte in einer Kalkgrube.
Die Akten der Gestapo, die über Martin berichten, blieben in dem Krieg, der bald darauf ausbrach, erhalten, da sie in einem tiefen Keller in Sicherheit gebracht worden waren. Aus diesen Akten kennen wir die Geschichte des deutschen Kommunisten Martin.
Und nun überlegt einmal: Dieser gefolterte, gequälte, verkannte und verfemte Mensch schwieg. Er schwieg, als seine Eltern, sein Bruder, seine Braut, seine Genossen sich von ihm wandten. Er schwieg, als niemand
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