Gast im Weltraum
vermochte nur mit größter Anstrengung, die Müdigkeit zu überwinden. Um zwei Uhr löste mich Anna ab. Ich ging in meine Wohnung und wollte wenigstens einige Stunden schlafen. Aber um vier Uhr läutete das Telefon. Aus bleischwerem Schlaf gerissen, wie trunken, hörte ich die Stimme Annas: „Zunehmende Herzschwäche, Zustand bedrohlich.“ Mit beiden Beinen zugleich sprang ich aus dem Bett, zog rasch den Kittel über und lief eilends in die Krankenstation.
Der Patient war bewußtlos, sein Atem ging pfeifend, die Lippen waren heiß und trocken. Ein bellender Husten erschütterte von Zeit zu Zeit den ganzen Körper. Der Zeiger des Pulsmessers stand auf mehr als 130. Wir setzten die Sauerstoffapparate ein, ich gab dem Kranken Spritzen, um den Kreislauf anzuregen, und zog sogar in Erwägung, das künstliche Herz anzuwenden. Aber die allgemeinen Vergiftungserscheinungen sprachen dagegen. Ich weckte Schrey, der wenige Minuten später am Krankenlager erschien. Wir bemühten uns nun zu dritt, die Ursache dieser geheimnisvollen Erkrankung zu finden. Eines stand fest: Mit der Hitze hatte sie nichts zu tun. Wir untersuchten nochmals das Blut auf Bakterien; der Befund war wieder negativ. An Bord der Gea gab es zwar keine Bakterien, aber wir mußten immerhin mit der Möglichkeit rechnen, daß solche Krankheitserreger von dem künstlichen Mond eingeschleppt worden waren.
Als wir alles getan hatten, was in dieser Situation zu tun war, ging ich für eine kurze Zeit auf die Sterngalerie. Sie war leer, in dieser frühen Morgenstunde – es war fünf Uhr– suchte sie niemand auf. Nur das dumpfe, eintönige Sausen der Ventilatoren war zu hören. Nachdenklich schritt ich über das Promenadendeck, ohne den imposanten Anblick zu beachten, den die Oberfläche des roten Zwerges bot. Plötzlich traf ein blendender Lichtschein meine Augen. Ich blieb wie angewurzelt stehen.
Im ersten Augenblick sah ich nur ein brennendes Rot – nicht das unbeweglich schwere Glänzen glühenden Stahls, sondern das Leuchten des in Bewegung geratenen, halbflüssigen Ozeans der Chromosphäre. Ich starrte fasziniert auf dieses Schauspiel und vermochte nun Einzelheiten zu erkennen. Die scheinbar homogene Feuerwand, die drei Viertel des Firmaments verhüllte, schien zu unheimlichem Leben erwacht zu sein. Ein Sturm tobte in purpurroten Flammenwäldern, über deren zerzaustes Dickicht gewaltige Protuberanzen emporloderten, die sich verzweigten und vermehrten. Sie verzerrten sich zu feurigen, blutroten Fratzen, zu grotesken, weit aufgerissenen Mäulern, die nur aus flammenden Kiefern bestanden und langsam etwas zermalmten. Wenige Sekunden später krümmten und bogen sie sich, wurden formlose Gebilde und zerstoben, um neuen Explosionen aus der Granulation zu weichen, die sich ständig veränderte, als jagten gewaltige Windstöße sie auseinander. Manchmal erschienen, bevor die Protuberanzen aufloderten, zwei fliegende, in entgegengesetzter Richtung sich drehende Feuerräder, die dunkler waren als ihre Umgebung. An anderen Stellen bildeten sich in der glühenden Oberfläche wirbelnde Trichter; sie blähten sich jäh auf und spien Blitze aus, die mit rasender Geschwindigkeit emporschossen und, je höher sie stiegen, immer unansehnlicher, blasser und schwächer wurden, bis sie sich in ein orangefarbenes Dämmerlicht verwandelten, das den Blick auf die tieferen, unablässig wogenden und wallenden Schichten der Chromosphäre freigab.
Ein unbeschreiblich schönes Bild! Nach jahrelanger Dunkelheit und eisiger Leere, in der selbst das flüchtigste Gas gefror, erhoben sich hinter den dünnen Wänden der Gea nicht Gebirge, breitete sich nicht ein Ozean aus, sondern eine gigantische Welt des Feuers. Die Panzer des Schiffes schienen zu zerfallen, zu schmelzen – als lächerliches Metallstäubchen hing unser Raumschiff über dem gleißenden, brodelnden Abgrund.
Wie erbarmungslos ist doch das All, dachte ich, wie selten und engbegrenzt sind die gemäßigten Zonen des Ausgleichs, in denen Leben entstehen und für eine gewisse Zeit existieren kann – das schwache, zarte Leben, das so wehrlos ist gegen die weiße Glut und die schwarze Kälte, die beiden äußersten Grenzen des Daseins. Aber dieses zarte, anfällige Leben wagt viel, und so fliegen wir jetzt zu einer der Sonnen, einem der ewig blinden Feuer, die uns das Leben zeugen. Im Gesicht, in den Augen, auf der Stirn fühlte ich Tausende feiner Nadelstiche – die Glut des roten Zwerges, der ein Zwerg ist gegenüber
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