Gast im Weltraum
Mondes, die mit einer Verspätung von einer Sekunde arbeiten, empfingen die Aufforderung und schalteten auf Empfang. Auf allen Wellen im gesamten Herrschaftsbereich der Menschen wurde es still. Nur das ständige Ticken der Atomuhren in den Observatorien unterbrach das feine Rauschen im Lautsprecher. Plötzlich meldete sich ein Mondpilot und fragte, was geschehen sei. Eine laute Stimme befahl ihm, sich sofort auszuschalten. Nun herrschte wieder völlige Stille. Seit meinem Notruf waren fünf Sekunden vergangen. In der sechsten sagte ich knapp und sachlich, wie vorgeschrieben, meine Meldung durch: „Ein Kind mit Namen Pao, ungefähr dreieinhalb Jahre alt, wurde verlassen aufgefunden. Der Junge hat nußbraune Augen…“ und so weiter. Die Translationsstationen gaben kurze Pfeiftonsignale. Dann meldeten sich gleich zwei auf einmal und teilten mit, daß sie die Verlustmeldung der Eltern aufgenommen hätten, die bereits seit fünf Stunden auf eine Nachricht warteten. In der zweiundzwanzigsten Sekunde wurden alle unterbrochenen Verbindungen wiederhergestellt: Die Flugzeuge und Raketen meldeten sich, die Automaten beendeten ihre abgerissenen Sätze, Menschen lachten und sprachen. Bald drang nur noch ein unverständliches Durcheinander von Geräuschen aus dem Lautsprecher meines Apparates.
Wir mußten länger als zwei Stunden auf die Ankunft der Eltern warten. Anfangs spielte ich mit dem Kleinen Ball. Er nahm die Sache sehr ernst und warf ihn gewissenhaft zu mir zurück. Sein Gesicht wurde immer verschlossener, auf einmal verzog es sich zum Weinen. Da erinnerte ich mich, daß ich ja im Marathonlauf gesiegt hatte. Das war ein vorzüglicher Gedanke! Ich erzählte dem Kleinen den ganzen Lauf so ausführlich wie möglich. Er glaubte mir kein Wort und war von der Wahrheit meines Berichtes erst überzeugt, als ich ihm den kleinen Lorbeerzweig zeigte. Im dramatischsten Augenblick machte ich eine Pause und bemerkte, daß Pao in meinen Armen eingeschlafen war. Auf seinen Wangen waren die Spuren der letzten Tränen zu sehen. Von Zeit zu Zeit verzog er das Gesicht und schluchzte im Traum. Als über den Wäldern der nahen Höhen ein rosaroter Streifen als Vorbote des kommenden Tages auf glomm, erlosch plötzlich das Leuchten des Gartens wie weggeblasen. Fast gleichzeitig vernahm ich ein leises Geräusch, das allmählich anschwoll. Paos Eltern kamen. Der Gedanke, daß ich mit ihnen sprechen, ihnen vielleicht auf Fragen antworten müßte, die ich selbst nicht zu beantworten vermochte, daß sie mir danken, mich möglicherweise einladen würden, sie zu begleiten, jagte mir einen panischen Schrecken ein. So behutsam wie möglich ließ ich den Kleinen auf die Steinbank gleiten, schob ihm die zusammengerollten Ärmel der Joppe unter den Kopf, drückte ihm den kleinen Ball in den Arm und lief zu meinem Hubschrauber. Diese letzte verrückte Handlung gehörte eigentlich nicht mehr zu dieser Erdennacht. Als ich mich in die Luft erhob, trafen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne mein Gesicht.
Am 21. Juli 3123 sah ich Anna zum letztenmal. Wir trafen uns in Porsangor, einer kleinen Station an der Fluglinie Eurasien–Amerika. Das Städtchen liegt an dem Fjord gleichen Namens. Auf dem steilen, gewundenen Steig erklommen wir einen der Küstenfelsen. Von Zeit zu Zeit machten wir halt, um tief Atem zu holen. Das Rauschen des nahen Meeres drang deutlich zu uns herauf. Auf dem Gipfel fauchten uns heftige Windstöße entgegen. Wir blieben mit laut schlagenden Herzen stehen. Tief unter uns spielte sich der unerbittliche, niemals ruhende Kampf zweier Landschaften ab. Die eine, erhaben, hochgetürmt, war wie in der Erwartung der unausweichlichen Niederlage erstarrt, die andere stürmte unermüdlich mit langen Reihen schwarzweißer Wellenberge gegen sie an, die dröhnend an den Felsen zerbarsten.
„Hast du schon Abschied genommen von denErde?“ fragte meine Gefährtin halblaut, ohne mich anzublicken.
„Ich tue es in diesem Augenblick“, erwiderte ich ebenso leise.
Anna näherte sich mit ihrem leichten, federnden Schritt einigen Felsbrocken und suchte einen Platz, der am besten der Form ihrer Schultern entsprach, der, wie geschaffen für sie, scheinbar auf diese Stunde gewartet hatte. Immer wieder war ich erstaunt, mit welch natürlicher Selbstverständlichkeit sie sogar in der Wildnis solche kleinen Bequemlichkeiten für sich zu entdecken wußte.
„Wen hast du denn heute alles besucht?“ erkundigte sie sich.
„Zuerst war ich bei meinen
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